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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Die Erben.
die Frage bejahen? Keinen grossen Gedanken des Altertums überkam
er in reiner Gestalt, sondern alle übermittelt durch die sterilen, schalen,
lichtscheuen, freiheitsfeindlichen Geister des Völkerchaos. Doch dem
Germanen blieb keine Wahl. Um zu leben, musste er die fremden
Sitten, die fremden Gedanken sich zunächst so aneignen, wie sie ihm
dargeboten wurden; er musste in die Lehre gehen bei einer Civilisation,
die in Wahrheit nicht wert war, ihm die Schuhriemen aufzulösen;
gerade das, was ihm am nächsten verwandt gewesen wäre, hellenischer
Schaffensdrang, römische Volksgesetzgebung, die erhaben einfache Lehre
Christi, wurde seinem Auge gänzlich entzogen, um erst nach vielen
Jahrhunderten durch seinen eigenen Fleiss ausgegraben zu werden.
Seine bedenkliche Assimilationsfähigkeit kam ihm bei der Aneignung
des Fremden sehr zu statten, auch jene "Blödigkeit", die Luther lobt
als "ein sicher Zeichen eines frommen, gottesfürchtigen Herzens", die
aber in ihrer übertriebenen Schätzung fremden Verdienstes zu mancher
Bethörung führt. Deswegen bedarf es aber auch eines scharfen,
kritischen Auges, um in Motiven und Gedanken jener alten Helden-
geschlechter das echt Germanische von dem aus seinem natürlichen
Stromwege Abgeleiteten, bisweilen auf ewig Abgeleiteten, zu scheiden.
So ist z. B. die absolute religiöse Toleranz der Goten, als sie Herren
jenes römischen Reiches geworden waren, wo lange schon das Prinzip
der Intoleranz herrschte, eben so charakteristisch für germanische Ge-
sinnung wie der Schutz, den sie den Denkmälern der Kunst ge-
währten.1) Wir sehen hier gleich jene beiden Züge: Freiheit und
Treue. Charakteristisch ist auch die Beharrlichkeit, mit welcher die
Goten den Arianismus festhielten. Gewiss hat Dahn Recht, wenn
er sagt, es sei Zufall, dass die Goten der Sekte der Arianer zugeführt
wurden, nicht der der Athanasier; doch der Zufall hört dort auf, wo
die Treue anfängt. Dank dem grossen Wulfila besassen die Goten
die ganze Bibel in ihrer heimatlichen Sprache und Dahn's Spott über
die geringe Beanlagung dieser rauhen Männer für theologische Dispute
ist wenig am Platze der Thatsache gegenüber, dass die Quelle ihres
religiösen Glaubens ihnen aus diesem lebendigen Buche floss, was

1) Siehe oben S. 315 und vergl. Gibbon: Roman Empire, chapter XXXIX,
und Clarac: Manuel de l'histoire de l'art chez les Anciens jusqu'a la fin du 6me siecle
de notre ere
, II, 857 suiv. Die Mestizenvölker zerstörten die Denkmäler, teils aus
religiösem Fanatismus, teils weil die Statuen den besten Baukalk abgaben und die
Tempel vortreffliche Quadern. Wo sind die wahren Barbaren?

Die Erben.
die Frage bejahen? Keinen grossen Gedanken des Altertums überkam
er in reiner Gestalt, sondern alle übermittelt durch die sterilen, schalen,
lichtscheuen, freiheitsfeindlichen Geister des Völkerchaos. Doch dem
Germanen blieb keine Wahl. Um zu leben, musste er die fremden
Sitten, die fremden Gedanken sich zunächst so aneignen, wie sie ihm
dargeboten wurden; er musste in die Lehre gehen bei einer Civilisation,
die in Wahrheit nicht wert war, ihm die Schuhriemen aufzulösen;
gerade das, was ihm am nächsten verwandt gewesen wäre, hellenischer
Schaffensdrang, römische Volksgesetzgebung, die erhaben einfache Lehre
Christi, wurde seinem Auge gänzlich entzogen, um erst nach vielen
Jahrhunderten durch seinen eigenen Fleiss ausgegraben zu werden.
Seine bedenkliche Assimilationsfähigkeit kam ihm bei der Aneignung
des Fremden sehr zu statten, auch jene »Blödigkeit«, die Luther lobt
als »ein sicher Zeichen eines frommen, gottesfürchtigen Herzens«, die
aber in ihrer übertriebenen Schätzung fremden Verdienstes zu mancher
Bethörung führt. Deswegen bedarf es aber auch eines scharfen,
kritischen Auges, um in Motiven und Gedanken jener alten Helden-
geschlechter das echt Germanische von dem aus seinem natürlichen
Stromwege Abgeleiteten, bisweilen auf ewig Abgeleiteten, zu scheiden.
So ist z. B. die absolute religiöse Toleranz der Goten, als sie Herren
jenes römischen Reiches geworden waren, wo lange schon das Prinzip
der Intoleranz herrschte, eben so charakteristisch für germanische Ge-
sinnung wie der Schutz, den sie den Denkmälern der Kunst ge-
währten.1) Wir sehen hier gleich jene beiden Züge: Freiheit und
Treue. Charakteristisch ist auch die Beharrlichkeit, mit welcher die
Goten den Arianismus festhielten. Gewiss hat Dahn Recht, wenn
er sagt, es sei Zufall, dass die Goten der Sekte der Arianer zugeführt
wurden, nicht der der Athanasier; doch der Zufall hört dort auf, wo
die Treue anfängt. Dank dem grossen Wulfila besassen die Goten
die ganze Bibel in ihrer heimatlichen Sprache und Dahn’s Spott über
die geringe Beanlagung dieser rauhen Männer für theologische Dispute
ist wenig am Platze der Thatsache gegenüber, dass die Quelle ihres
religiösen Glaubens ihnen aus diesem lebendigen Buche floss, was

1) Siehe oben S. 315 und vergl. Gibbon: Roman Empire, chapter XXXIX,
und Clarac: Manuel de l’histoire de l’art chez les Anciens jusqu’à la fin du 6me siècle
de notre ère
, II, 857 suiv. Die Mestizenvölker zerstörten die Denkmäler, teils aus
religiösem Fanatismus, teils weil die Statuen den besten Baukalk abgaben und die
Tempel vortreffliche Quadern. Wo sind die wahren Barbaren?
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[512/0535] Die Erben. die Frage bejahen? Keinen grossen Gedanken des Altertums überkam er in reiner Gestalt, sondern alle übermittelt durch die sterilen, schalen, lichtscheuen, freiheitsfeindlichen Geister des Völkerchaos. Doch dem Germanen blieb keine Wahl. Um zu leben, musste er die fremden Sitten, die fremden Gedanken sich zunächst so aneignen, wie sie ihm dargeboten wurden; er musste in die Lehre gehen bei einer Civilisation, die in Wahrheit nicht wert war, ihm die Schuhriemen aufzulösen; gerade das, was ihm am nächsten verwandt gewesen wäre, hellenischer Schaffensdrang, römische Volksgesetzgebung, die erhaben einfache Lehre Christi, wurde seinem Auge gänzlich entzogen, um erst nach vielen Jahrhunderten durch seinen eigenen Fleiss ausgegraben zu werden. Seine bedenkliche Assimilationsfähigkeit kam ihm bei der Aneignung des Fremden sehr zu statten, auch jene »Blödigkeit«, die Luther lobt als »ein sicher Zeichen eines frommen, gottesfürchtigen Herzens«, die aber in ihrer übertriebenen Schätzung fremden Verdienstes zu mancher Bethörung führt. Deswegen bedarf es aber auch eines scharfen, kritischen Auges, um in Motiven und Gedanken jener alten Helden- geschlechter das echt Germanische von dem aus seinem natürlichen Stromwege Abgeleiteten, bisweilen auf ewig Abgeleiteten, zu scheiden. So ist z. B. die absolute religiöse Toleranz der Goten, als sie Herren jenes römischen Reiches geworden waren, wo lange schon das Prinzip der Intoleranz herrschte, eben so charakteristisch für germanische Ge- sinnung wie der Schutz, den sie den Denkmälern der Kunst ge- währten. 1) Wir sehen hier gleich jene beiden Züge: Freiheit und Treue. Charakteristisch ist auch die Beharrlichkeit, mit welcher die Goten den Arianismus festhielten. Gewiss hat Dahn Recht, wenn er sagt, es sei Zufall, dass die Goten der Sekte der Arianer zugeführt wurden, nicht der der Athanasier; doch der Zufall hört dort auf, wo die Treue anfängt. Dank dem grossen Wulfila besassen die Goten die ganze Bibel in ihrer heimatlichen Sprache und Dahn’s Spott über die geringe Beanlagung dieser rauhen Männer für theologische Dispute ist wenig am Platze der Thatsache gegenüber, dass die Quelle ihres religiösen Glaubens ihnen aus diesem lebendigen Buche floss, was 1) Siehe oben S. 315 und vergl. Gibbon: Roman Empire, chapter XXXIX, und Clarac: Manuel de l’histoire de l’art chez les Anciens jusqu’à la fin du 6me siècle de notre ère, II, 857 suiv. Die Mestizenvölker zerstörten die Denkmäler, teils aus religiösem Fanatismus, teils weil die Statuen den besten Baukalk abgaben und die Tempel vortreffliche Quadern. Wo sind die wahren Barbaren?

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 512. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/535>, abgerufen am 24.11.2024.