Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.Allgemeine Einleitung. Reaktionsgelüste, zwischen Autokratie und Anarchismus, zwischen Un-fehlbarkeitserklärungen und stupidestem Materialismus, zwischen Juden- anbetung und Antisemitismus, zwischen raffinierten Meyerbeerschen Opern und urnaiver Volksmelodienmanie, zwischen Millionärwirtschaft und Proletarierpolitik. Nicht die Ideen sind in unserem Jahrhundert das Charakteristische, sondern die materiellen Errungenschaften. Die grossen Gedanken, die hier und da sich geregt haben, die gewaltigen Kunstschöpfungen, die von Faust's zweitem Teil bis Parsifal dem deutschen Volk zu ewigem Ruhme entstanden sind, strebten hinaus in künftige Zeiten. Nach grossen, sozialen Umwälzungen und nach grossen geistigen Errungenschaften (am Abend des vorigen und am frühen Morgen dieses Jahrhunderts) musste wieder Stoff gesammelt werden zu weiterer Entwickelung. Hierbei -- bei dieser vorwiegenden Be- fangenheit im Stofflichen -- schwand das Schöne aus unserem Leben fast ganz; es existiert vielleicht in diesem Augenblick kein wildes, jedenfalls kein halbcivilisiertes Volk, welches nicht mehr Schönes in seiner Umgebung und mehr Harmonie in seinem Gesamtdasein be- sässe als die grosse Masse der sogenannten kultivierten Europäer. In der enthusiastischen Bewunderung des 19. Jahrhunderts ist es darum, glaube ich, geboten, Mass zu halten. Leicht ist es dagegen, den von Goethe empfohlenen Enthusiasmus zu empfinden, sobald der Blick nicht auf dem einen Jahrhundert allein ruhen bleibt, sondern die ge- samte Entwickelung der seit einigen Jahrhunderten im Entstehen be- griffenen "neuen Welt" umfasst. Gewiss ist der landläufige Begriff des "Fortschrittes" kein philosophisch wohl begründeter; unter dieser Flagge segelt fast die ganze Bafelware unseres Jahrhunderts; Goethe, der nicht müde wird, auf die Begeisterung als das treibende Element in unserer Natur hinzuweisen, spricht es nichtsdestoweniger als seine Überzeugung aus: "Klüger und einsichtiger werden die Menschen, aber besser, glücklicher und thatkräftiger nicht, oder nur auf Epochen."1) Was für ein erhebenderes Gefühl kann es aber geben, als das, mit Bewusstsein einer solchen Epoche entgegenzuarbeiten, in welcher, wenn auch nur vorübergehend, die Menschen besser, glücklicher und that- kräftiger sein werden? Und wenn man unser Jahrhundert nicht isoliert betrachtet, sondern als einen Bestandteil eines weit grösseren Zeitlaufs, so entdeckt man bald, dass aus der Barbarei, welche auf den Zu- sammensturz der alten Welt folgte, und aus der wilden Gährung, die 1) Eckermann: 23. Oktober 1828.
Allgemeine Einleitung. Reaktionsgelüste, zwischen Autokratie und Anarchismus, zwischen Un-fehlbarkeitserklärungen und stupidestem Materialismus, zwischen Juden- anbetung und Antisemitismus, zwischen raffinierten Meyerbeerschen Opern und urnaiver Volksmelodienmanie, zwischen Millionärwirtschaft und Proletarierpolitik. Nicht die Ideen sind in unserem Jahrhundert das Charakteristische, sondern die materiellen Errungenschaften. Die grossen Gedanken, die hier und da sich geregt haben, die gewaltigen Kunstschöpfungen, die von Faust’s zweitem Teil bis Parsifal dem deutschen Volk zu ewigem Ruhme entstanden sind, strebten hinaus in künftige Zeiten. Nach grossen, sozialen Umwälzungen und nach grossen geistigen Errungenschaften (am Abend des vorigen und am frühen Morgen dieses Jahrhunderts) musste wieder Stoff gesammelt werden zu weiterer Entwickelung. Hierbei — bei dieser vorwiegenden Be- fangenheit im Stofflichen — schwand das Schöne aus unserem Leben fast ganz; es existiert vielleicht in diesem Augenblick kein wildes, jedenfalls kein halbcivilisiertes Volk, welches nicht mehr Schönes in seiner Umgebung und mehr Harmonie in seinem Gesamtdasein be- sässe als die grosse Masse der sogenannten kultivierten Europäer. In der enthusiastischen Bewunderung des 19. Jahrhunderts ist es darum, glaube ich, geboten, Mass zu halten. Leicht ist es dagegen, den von Goethe empfohlenen Enthusiasmus zu empfinden, sobald der Blick nicht auf dem einen Jahrhundert allein ruhen bleibt, sondern die ge- samte Entwickelung der seit einigen Jahrhunderten im Entstehen be- griffenen »neuen Welt« umfasst. Gewiss ist der landläufige Begriff des »Fortschrittes« kein philosophisch wohl begründeter; unter dieser Flagge segelt fast die ganze Bafelware unseres Jahrhunderts; Goethe, der nicht müde wird, auf die Begeisterung als das treibende Element in unserer Natur hinzuweisen, spricht es nichtsdestoweniger als seine Überzeugung aus: »Klüger und einsichtiger werden die Menschen, aber besser, glücklicher und thatkräftiger nicht, oder nur auf Epochen.«1) Was für ein erhebenderes Gefühl kann es aber geben, als das, mit Bewusstsein einer solchen Epoche entgegenzuarbeiten, in welcher, wenn auch nur vorübergehend, die Menschen besser, glücklicher und that- kräftiger sein werden? Und wenn man unser Jahrhundert nicht isoliert betrachtet, sondern als einen Bestandteil eines weit grösseren Zeitlaufs, so entdeckt man bald, dass aus der Barbarei, welche auf den Zu- sammensturz der alten Welt folgte, und aus der wilden Gährung, die 1) Eckermann: 23. Oktober 1828.
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Allgemeine Einleitung.
Reaktionsgelüste, zwischen Autokratie und Anarchismus, zwischen Un-
fehlbarkeitserklärungen und stupidestem Materialismus, zwischen Juden-
anbetung und Antisemitismus, zwischen raffinierten Meyerbeerschen
Opern und urnaiver Volksmelodienmanie, zwischen Millionärwirtschaft
und Proletarierpolitik. Nicht die Ideen sind in unserem Jahrhundert
das Charakteristische, sondern die materiellen Errungenschaften. Die
grossen Gedanken, die hier und da sich geregt haben, die gewaltigen
Kunstschöpfungen, die von Faust’s zweitem Teil bis Parsifal dem
deutschen Volk zu ewigem Ruhme entstanden sind, strebten hinaus
in künftige Zeiten. Nach grossen, sozialen Umwälzungen und nach
grossen geistigen Errungenschaften (am Abend des vorigen und am
frühen Morgen dieses Jahrhunderts) musste wieder Stoff gesammelt werden
zu weiterer Entwickelung. Hierbei — bei dieser vorwiegenden Be-
fangenheit im Stofflichen — schwand das Schöne aus unserem Leben
fast ganz; es existiert vielleicht in diesem Augenblick kein wildes,
jedenfalls kein halbcivilisiertes Volk, welches nicht mehr Schönes in
seiner Umgebung und mehr Harmonie in seinem Gesamtdasein be-
sässe als die grosse Masse der sogenannten kultivierten Europäer. In
der enthusiastischen Bewunderung des 19. Jahrhunderts ist es darum,
glaube ich, geboten, Mass zu halten. Leicht ist es dagegen, den von
Goethe empfohlenen Enthusiasmus zu empfinden, sobald der Blick
nicht auf dem einen Jahrhundert allein ruhen bleibt, sondern die ge-
samte Entwickelung der seit einigen Jahrhunderten im Entstehen be-
griffenen »neuen Welt« umfasst. Gewiss ist der landläufige Begriff
des »Fortschrittes« kein philosophisch wohl begründeter; unter dieser
Flagge segelt fast die ganze Bafelware unseres Jahrhunderts; Goethe,
der nicht müde wird, auf die Begeisterung als das treibende Element
in unserer Natur hinzuweisen, spricht es nichtsdestoweniger als seine
Überzeugung aus: »Klüger und einsichtiger werden die Menschen, aber
besser, glücklicher und thatkräftiger nicht, oder nur auf Epochen.« 1)
Was für ein erhebenderes Gefühl kann es aber geben, als das, mit
Bewusstsein einer solchen Epoche entgegenzuarbeiten, in welcher, wenn
auch nur vorübergehend, die Menschen besser, glücklicher und that-
kräftiger sein werden? Und wenn man unser Jahrhundert nicht isoliert
betrachtet, sondern als einen Bestandteil eines weit grösseren Zeitlaufs,
so entdeckt man bald, dass aus der Barbarei, welche auf den Zu-
sammensturz der alten Welt folgte, und aus der wilden Gährung, die
1) Eckermann: 23. Oktober 1828.
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