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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Allgemeine Einleitung.
der Zusammenstoss einander widerstrebender Kräfte hervorrief, sich
vor etlichen Jahrhunderten eine vollkommen neue Gestaltung der
menschlichen Gesellschaft zu entwickeln begann, und dass unsere
heutige Welt -- weit entfernt, den Gipfel dieser Evolution zu
bedeuten -- einfach ein Durchgangsstadium, eine "mittlere Zeit",
auf dem weiten und mühsamen Wege darstellt. Wäre unser Jahr-
hundert wirklich ein Gipfelpunkt, dann wäre die pessimistische An-
sicht die einzig berechtigte: nach allen grossen Errungenschaften auf
geistigem und materiellem Gebiete die bestialische Bosheit noch so
verbreitet und das Elend vertausendfacht zu sehen, das könnte uns
nur veranlassen, Jean Jacques Rousseau's Gebet nachzusprechen: "All-
mächtiger Gott, erlöse uns von den Wissenschaften und verderben-
bringenden Künsten unserer Väter! gieb uns wieder die Unwissenheit,
die Unschuld und die Armut, als die einzigen Güter aus welchen
Glück uns entstehen kann und welche vor deinem Angesichte Wert
besitzen!" Erblicken wir dagegen, wie gesagt, in unserem Jahrhundert
nur eine Etappe, lassen wir uns ausserdem von keinen Wahnbildern
"goldener Zeitalter", ebensowenig von Zukunfts- wie von Vergangen-
heitswahnbildern blenden, noch von utopischen Vorstellungen einer
prinzipiellen Besserung der gesamten Menschheit und ideal funktio-
nierender Staatsmaschinen in unserem gesunden Urteile irreführen,
dann dürfen wir wohl hoffen und zu erkennen glauben, dass wir
Germanen und die Völker, die unter unserem Einfluss stehen, einer
neuen harmonischen Kultur entgegenreifen, unvergleichlich schöner
als irgend eine der früheren, von denen die Geschichte zu erzählen
weiss, einer Kultur, in der die Menschen wirklich "besser und glück-
licher" sein werden, als sie es jetzt sind. Vielleicht ist die Tendenz
der modernen Schulbildung, den Blick so beständig auf die Vergangen-
heit zu richten, eine bedauerliche; sie hat aber insoferne ihr Gutes,
als man kein Schiller zu sein braucht, um mit diesem zu empfinden,
dass "kein einzelner Neuerer mit dem einzelnen Athenienser um den
Preis der Menschheit streiten" könne;1) darum richten wir nun
unseren Blick auf die Zukunft, auf jene Zukunft, deren Gestaltung
wir aus dem Bewusstsein dessen, was die Gegenwart der letzten
siebenhundert Jahre zu bedeuten hat, allmählich zu ahnen beginnen.
Wir wollen es mit dem Athenienser aufnehmen! wir wollen eine

1) Dieser berühmte Satz ist nur sehr bedingt wahr; ich habe ihn im Schluss-
kapitel einer gründlichen Kritik unterzogen, worauf ich zur Vermeidung von Miss-
verständnissen hier verweise.
Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 3

Allgemeine Einleitung.
der Zusammenstoss einander widerstrebender Kräfte hervorrief, sich
vor etlichen Jahrhunderten eine vollkommen neue Gestaltung der
menschlichen Gesellschaft zu entwickeln begann, und dass unsere
heutige Welt — weit entfernt, den Gipfel dieser Evolution zu
bedeuten — einfach ein Durchgangsstadium, eine »mittlere Zeit«,
auf dem weiten und mühsamen Wege darstellt. Wäre unser Jahr-
hundert wirklich ein Gipfelpunkt, dann wäre die pessimistische An-
sicht die einzig berechtigte: nach allen grossen Errungenschaften auf
geistigem und materiellem Gebiete die bestialische Bosheit noch so
verbreitet und das Elend vertausendfacht zu sehen, das könnte uns
nur veranlassen, Jean Jacques Rousseau’s Gebet nachzusprechen: »All-
mächtiger Gott, erlöse uns von den Wissenschaften und verderben-
bringenden Künsten unserer Väter! gieb uns wieder die Unwissenheit,
die Unschuld und die Armut, als die einzigen Güter aus welchen
Glück uns entstehen kann und welche vor deinem Angesichte Wert
besitzen!« Erblicken wir dagegen, wie gesagt, in unserem Jahrhundert
nur eine Etappe, lassen wir uns ausserdem von keinen Wahnbildern
»goldener Zeitalter«, ebensowenig von Zukunfts- wie von Vergangen-
heitswahnbildern blenden, noch von utopischen Vorstellungen einer
prinzipiellen Besserung der gesamten Menschheit und ideal funktio-
nierender Staatsmaschinen in unserem gesunden Urteile irreführen,
dann dürfen wir wohl hoffen und zu erkennen glauben, dass wir
Germanen und die Völker, die unter unserem Einfluss stehen, einer
neuen harmonischen Kultur entgegenreifen, unvergleichlich schöner
als irgend eine der früheren, von denen die Geschichte zu erzählen
weiss, einer Kultur, in der die Menschen wirklich »besser und glück-
licher« sein werden, als sie es jetzt sind. Vielleicht ist die Tendenz
der modernen Schulbildung, den Blick so beständig auf die Vergangen-
heit zu richten, eine bedauerliche; sie hat aber insoferne ihr Gutes,
als man kein Schiller zu sein braucht, um mit diesem zu empfinden,
dass »kein einzelner Neuerer mit dem einzelnen Athenienser um den
Preis der Menschheit streiten« könne;1) darum richten wir nun
unseren Blick auf die Zukunft, auf jene Zukunft, deren Gestaltung
wir aus dem Bewusstsein dessen, was die Gegenwart der letzten
siebenhundert Jahre zu bedeuten hat, allmählich zu ahnen beginnen.
Wir wollen es mit dem Athenienser aufnehmen! wir wollen eine

1) Dieser berühmte Satz ist nur sehr bedingt wahr; ich habe ihn im Schluss-
kapitel einer gründlichen Kritik unterzogen, worauf ich zur Vermeidung von Miss-
verständnissen hier verweise.
Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 3
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[33/0056] Allgemeine Einleitung. der Zusammenstoss einander widerstrebender Kräfte hervorrief, sich vor etlichen Jahrhunderten eine vollkommen neue Gestaltung der menschlichen Gesellschaft zu entwickeln begann, und dass unsere heutige Welt — weit entfernt, den Gipfel dieser Evolution zu bedeuten — einfach ein Durchgangsstadium, eine »mittlere Zeit«, auf dem weiten und mühsamen Wege darstellt. Wäre unser Jahr- hundert wirklich ein Gipfelpunkt, dann wäre die pessimistische An- sicht die einzig berechtigte: nach allen grossen Errungenschaften auf geistigem und materiellem Gebiete die bestialische Bosheit noch so verbreitet und das Elend vertausendfacht zu sehen, das könnte uns nur veranlassen, Jean Jacques Rousseau’s Gebet nachzusprechen: »All- mächtiger Gott, erlöse uns von den Wissenschaften und verderben- bringenden Künsten unserer Väter! gieb uns wieder die Unwissenheit, die Unschuld und die Armut, als die einzigen Güter aus welchen Glück uns entstehen kann und welche vor deinem Angesichte Wert besitzen!« Erblicken wir dagegen, wie gesagt, in unserem Jahrhundert nur eine Etappe, lassen wir uns ausserdem von keinen Wahnbildern »goldener Zeitalter«, ebensowenig von Zukunfts- wie von Vergangen- heitswahnbildern blenden, noch von utopischen Vorstellungen einer prinzipiellen Besserung der gesamten Menschheit und ideal funktio- nierender Staatsmaschinen in unserem gesunden Urteile irreführen, dann dürfen wir wohl hoffen und zu erkennen glauben, dass wir Germanen und die Völker, die unter unserem Einfluss stehen, einer neuen harmonischen Kultur entgegenreifen, unvergleichlich schöner als irgend eine der früheren, von denen die Geschichte zu erzählen weiss, einer Kultur, in der die Menschen wirklich »besser und glück- licher« sein werden, als sie es jetzt sind. Vielleicht ist die Tendenz der modernen Schulbildung, den Blick so beständig auf die Vergangen- heit zu richten, eine bedauerliche; sie hat aber insoferne ihr Gutes, als man kein Schiller zu sein braucht, um mit diesem zu empfinden, dass »kein einzelner Neuerer mit dem einzelnen Athenienser um den Preis der Menschheit streiten« könne; 1) darum richten wir nun unseren Blick auf die Zukunft, auf jene Zukunft, deren Gestaltung wir aus dem Bewusstsein dessen, was die Gegenwart der letzten siebenhundert Jahre zu bedeuten hat, allmählich zu ahnen beginnen. Wir wollen es mit dem Athenienser aufnehmen! wir wollen eine 1) Dieser berühmte Satz ist nur sehr bedingt wahr; ich habe ihn im Schluss- kapitel einer gründlichen Kritik unterzogen, worauf ich zur Vermeidung von Miss- verständnissen hier verweise. Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 3

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 33. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/56>, abgerufen am 24.11.2024.