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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Einleitendes.
auf der einen Seite nur eine Chronik von Herrscherhäusern, Metzeleien
und dergleichen, auf der anderen nur das stille, ergebene, fast tier-
mässig glückliche Hinleben ungezählter Millionen, die spurlos in der
Nacht der Zeiten untergehen. Ob das Reich der Pharaonen im
Jahre 3285 vor Christo oder im Jahre 32850 gegründet wurde, ist
an und für sich belanglos; Ägypten unter einem Ramses zu kennen,
ist dasselbe, als kennte man es unter allen 15 Ramessiden. Ebenso
verhält es sich mit den anderen vorchristlichen Völkern (mit Aus-
nahme jener drei, die zu unserer christlichen Epoche in organischer
Beziehung stehen, und von denen ich gleich reden werde): ihre
Kultur, ihre Kunst, ihre Religion, kurz ihr Zustand mögen uns
interessieren, ja, Errungenschaften ihres Geistes oder ihrer Industrie
können zu wertvollen Bestandteilen unseres eigenen Lebens geworden
sein, wie das z. B. für indisches Denken, babylonische Wissenschaft
und chinesische Erfindungen der Fall ist; ihrer Geschichte jedoch,
rein als solcher, fehlt das Moment der moralischen Grösse, jenes
Moment, heisst das, durch welches der einzelne Mensch veranlasst
wird, sich seiner Individualität im Gegensatz zur umgebenden Welt
bewusst zu werden, um dann wieder -- wie Ebbe und Flut -- die
Welt, die er in der eigenen Brust entdeckt hat, zur Gestaltung jener
äusseren zu verwenden. Der arische Inder z. B., in metaphysischer
Beziehung unstreitig der begabteste Mensch, den es je gegeben, und
allen heutigen Völkern in dieser Beziehung weit überlegen, bleibt
bei der inneren Erleuchtung stehen: er gestaltet nicht, er ist nicht
Künstler, er ist nicht Reformator, es genügt ihm, ruhig zu leben und
erlöst zu sterben -- er hat keine Geschichte. Ebensowenig hat sein
Antipode, der Chinese, dieses unübertroffene Muster des Positivisten
und des Kollektivisten, eine Geschichte; was unsere historischen
Werke unter diesem Titel geben, ist weiter nichts als eine Auf-
zählung der verschiedenen Räuberbanden, von denen das geduldige,
kluge und seelenlose Volk, ohne ein Jota von seiner Eigenart preis-
zugeben, sich hat regieren lassen; das alles ist kriminalistische Statistik,
nicht Geschichte, wenigstens für uns nicht: Handlungen, die in
unserer Brust kein Echo finden, können wir nicht wirklich beurteilen.

Ein Beispiel. Während diese Zeilen geschrieben werden, tobt
die gesamte gesittete Welt gegen die Türkei; die europäischen Mächte
werden durch die Stimme der öffentlichen Meinung gezwungen, zum
Schutze der Armenier und Kretenser einzuschreiten; die endgültige
Ausrottung der türkischen Macht scheint nur noch eine Frage der

Einleitendes.
auf der einen Seite nur eine Chronik von Herrscherhäusern, Metzeleien
und dergleichen, auf der anderen nur das stille, ergebene, fast tier-
mässig glückliche Hinleben ungezählter Millionen, die spurlos in der
Nacht der Zeiten untergehen. Ob das Reich der Pharaonen im
Jahre 3285 vor Christo oder im Jahre 32850 gegründet wurde, ist
an und für sich belanglos; Ägypten unter einem Ramses zu kennen,
ist dasselbe, als kennte man es unter allen 15 Ramessiden. Ebenso
verhält es sich mit den anderen vorchristlichen Völkern (mit Aus-
nahme jener drei, die zu unserer christlichen Epoche in organischer
Beziehung stehen, und von denen ich gleich reden werde): ihre
Kultur, ihre Kunst, ihre Religion, kurz ihr Zustand mögen uns
interessieren, ja, Errungenschaften ihres Geistes oder ihrer Industrie
können zu wertvollen Bestandteilen unseres eigenen Lebens geworden
sein, wie das z. B. für indisches Denken, babylonische Wissenschaft
und chinesische Erfindungen der Fall ist; ihrer Geschichte jedoch,
rein als solcher, fehlt das Moment der moralischen Grösse, jenes
Moment, heisst das, durch welches der einzelne Mensch veranlasst
wird, sich seiner Individualität im Gegensatz zur umgebenden Welt
bewusst zu werden, um dann wieder — wie Ebbe und Flut — die
Welt, die er in der eigenen Brust entdeckt hat, zur Gestaltung jener
äusseren zu verwenden. Der arische Inder z. B., in metaphysischer
Beziehung unstreitig der begabteste Mensch, den es je gegeben, und
allen heutigen Völkern in dieser Beziehung weit überlegen, bleibt
bei der inneren Erleuchtung stehen: er gestaltet nicht, er ist nicht
Künstler, er ist nicht Reformator, es genügt ihm, ruhig zu leben und
erlöst zu sterben — er hat keine Geschichte. Ebensowenig hat sein
Antipode, der Chinese, dieses unübertroffene Muster des Positivisten
und des Kollektivisten, eine Geschichte; was unsere historischen
Werke unter diesem Titel geben, ist weiter nichts als eine Auf-
zählung der verschiedenen Räuberbanden, von denen das geduldige,
kluge und seelenlose Volk, ohne ein Jota von seiner Eigenart preis-
zugeben, sich hat regieren lassen; das alles ist kriminalistische Statistik,
nicht Geschichte, wenigstens für uns nicht: Handlungen, die in
unserer Brust kein Echo finden, können wir nicht wirklich beurteilen.

Ein Beispiel. Während diese Zeilen geschrieben werden, tobt
die gesamte gesittete Welt gegen die Türkei; die europäischen Mächte
werden durch die Stimme der öffentlichen Meinung gezwungen, zum
Schutze der Armenier und Kretenser einzuschreiten; die endgültige
Ausrottung der türkischen Macht scheint nur noch eine Frage der

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[43/0066] Einleitendes. auf der einen Seite nur eine Chronik von Herrscherhäusern, Metzeleien und dergleichen, auf der anderen nur das stille, ergebene, fast tier- mässig glückliche Hinleben ungezählter Millionen, die spurlos in der Nacht der Zeiten untergehen. Ob das Reich der Pharaonen im Jahre 3285 vor Christo oder im Jahre 32850 gegründet wurde, ist an und für sich belanglos; Ägypten unter einem Ramses zu kennen, ist dasselbe, als kennte man es unter allen 15 Ramessiden. Ebenso verhält es sich mit den anderen vorchristlichen Völkern (mit Aus- nahme jener drei, die zu unserer christlichen Epoche in organischer Beziehung stehen, und von denen ich gleich reden werde): ihre Kultur, ihre Kunst, ihre Religion, kurz ihr Zustand mögen uns interessieren, ja, Errungenschaften ihres Geistes oder ihrer Industrie können zu wertvollen Bestandteilen unseres eigenen Lebens geworden sein, wie das z. B. für indisches Denken, babylonische Wissenschaft und chinesische Erfindungen der Fall ist; ihrer Geschichte jedoch, rein als solcher, fehlt das Moment der moralischen Grösse, jenes Moment, heisst das, durch welches der einzelne Mensch veranlasst wird, sich seiner Individualität im Gegensatz zur umgebenden Welt bewusst zu werden, um dann wieder — wie Ebbe und Flut — die Welt, die er in der eigenen Brust entdeckt hat, zur Gestaltung jener äusseren zu verwenden. Der arische Inder z. B., in metaphysischer Beziehung unstreitig der begabteste Mensch, den es je gegeben, und allen heutigen Völkern in dieser Beziehung weit überlegen, bleibt bei der inneren Erleuchtung stehen: er gestaltet nicht, er ist nicht Künstler, er ist nicht Reformator, es genügt ihm, ruhig zu leben und erlöst zu sterben — er hat keine Geschichte. Ebensowenig hat sein Antipode, der Chinese, dieses unübertroffene Muster des Positivisten und des Kollektivisten, eine Geschichte; was unsere historischen Werke unter diesem Titel geben, ist weiter nichts als eine Auf- zählung der verschiedenen Räuberbanden, von denen das geduldige, kluge und seelenlose Volk, ohne ein Jota von seiner Eigenart preis- zugeben, sich hat regieren lassen; das alles ist kriminalistische Statistik, nicht Geschichte, wenigstens für uns nicht: Handlungen, die in unserer Brust kein Echo finden, können wir nicht wirklich beurteilen. Ein Beispiel. Während diese Zeilen geschrieben werden, tobt die gesamte gesittete Welt gegen die Türkei; die europäischen Mächte werden durch die Stimme der öffentlichen Meinung gezwungen, zum Schutze der Armenier und Kretenser einzuschreiten; die endgültige Ausrottung der türkischen Macht scheint nur noch eine Frage der

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 43. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/66>, abgerufen am 24.11.2024.