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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Das Erbe der alten Welt.
Zeit. Das hat gewiss seine Berechtigung; es musste so kommen;
nichtsdestoweniger ist es eine Thatsache, dass die Türkei das letzte
Stückchen von Europa ist, wo eine ganze Bevölkerung in ungestörtem
Glück und Wohlbehagen lebt, eine Bevölkerung, die von sozialen
Fragen, vom bittern Kampf ums Dasein und dergleichen nichts weiss,
wo es keine grossen Vermögen giebt und buchstäblich gar keinen
Pauperismus, wo Alle eine einzige brüderliche Familie bilden und
Keiner auf Kosten des Anderen nach Reichtum strebt. Ich rede nicht
das nach, was Zeitungen und Bücher berichten, sondern ich bezeuge,
was ich aus eigener Anschauung weiss. Hätte der Mohammedaner
nicht Toleranz zu einer Zeit geübt, wo dieser Begriff im übrigen
Europa unbekannt war, es würde jetzt in den Balkanländern und in
Kleinasien idyllischer Frieden herrschen. Der Christ ist es, der hier
die Hefe des Zwistes hineinwirft; und mit der Grausamkeit einer
gedankenlos rückwirkenden Naturmacht erhebt sich der sonst humane
Moslemite und vertilgt den Störenfried. Dem Christen behagt eben
weder der weise Fatalismus des Mohammedaners, noch der kluge
Indifferentismus des Chinesen. "Ich bin nicht gekommen, den Frieden,
sondern das Schwert zu senden", sagte Christus selber. Die christ-
liche Idee kann, in einem gewissen Sinne, geradezu als eine anti-
soziale bezeichnet werden. Zum Bewusstsein einer sonst nie geahnten
persönlichen Würde erwacht, genügt dem Christen der einfache
tierische Instinkt des Zusammenlebens nicht mehr; er will nicht mehr
des Glückes der Bienen und der Ameisen teilhaftig sein. Bezeichnet
man das Christentum kurzweg als die Religion der Liebe, so hat
man seine Bedeutung für die Geschichte der Menschheit nur ober-
flächlich gestreift. Das Wesentliche ist hier vielmehr dieses: durch
das Christentum erhielt jeder Einzelne einen bisher nie geahnten,
unmessbaren Wert (sogar "die Haare auf seinem Haupte sind von
Gott alle gezählet", Matth. X., 30); diesem inneren Wert entspricht
das äussere Schicksal nicht, hierdurch ist das Leben tragisch geworden,
und erst durch die Tragik erhält Geschichte einen rein menschlichen
Inhalt. Denn kein Vorgang ist an und für sich historisch-tragisch;
er wird es erst durch den Sinn derer, die ihn erleben; sonst bleibt
das, was die Menschheit betrifft, ebenso erhaben gleichgültig, wie alle
anderen Naturphänomene. Auf die christliche Idee komme ich bald
zurück. Hier sollte nur angedeutet werden, erstens, wie tief und
wie sichtbar das Christentum umgestaltend auf das menschliche Fühlen
und Thun wirkt -- wofür wir noch die lebendigen Beweise dicht

Das Erbe der alten Welt.
Zeit. Das hat gewiss seine Berechtigung; es musste so kommen;
nichtsdestoweniger ist es eine Thatsache, dass die Türkei das letzte
Stückchen von Europa ist, wo eine ganze Bevölkerung in ungestörtem
Glück und Wohlbehagen lebt, eine Bevölkerung, die von sozialen
Fragen, vom bittern Kampf ums Dasein und dergleichen nichts weiss,
wo es keine grossen Vermögen giebt und buchstäblich gar keinen
Pauperismus, wo Alle eine einzige brüderliche Familie bilden und
Keiner auf Kosten des Anderen nach Reichtum strebt. Ich rede nicht
das nach, was Zeitungen und Bücher berichten, sondern ich bezeuge,
was ich aus eigener Anschauung weiss. Hätte der Mohammedaner
nicht Toleranz zu einer Zeit geübt, wo dieser Begriff im übrigen
Europa unbekannt war, es würde jetzt in den Balkanländern und in
Kleinasien idyllischer Frieden herrschen. Der Christ ist es, der hier
die Hefe des Zwistes hineinwirft; und mit der Grausamkeit einer
gedankenlos rückwirkenden Naturmacht erhebt sich der sonst humane
Moslemite und vertilgt den Störenfried. Dem Christen behagt eben
weder der weise Fatalismus des Mohammedaners, noch der kluge
Indifferentismus des Chinesen. »Ich bin nicht gekommen, den Frieden,
sondern das Schwert zu senden«, sagte Christus selber. Die christ-
liche Idee kann, in einem gewissen Sinne, geradezu als eine anti-
soziale bezeichnet werden. Zum Bewusstsein einer sonst nie geahnten
persönlichen Würde erwacht, genügt dem Christen der einfache
tierische Instinkt des Zusammenlebens nicht mehr; er will nicht mehr
des Glückes der Bienen und der Ameisen teilhaftig sein. Bezeichnet
man das Christentum kurzweg als die Religion der Liebe, so hat
man seine Bedeutung für die Geschichte der Menschheit nur ober-
flächlich gestreift. Das Wesentliche ist hier vielmehr dieses: durch
das Christentum erhielt jeder Einzelne einen bisher nie geahnten,
unmessbaren Wert (sogar »die Haare auf seinem Haupte sind von
Gott alle gezählet«, Matth. X., 30); diesem inneren Wert entspricht
das äussere Schicksal nicht, hierdurch ist das Leben tragisch geworden,
und erst durch die Tragik erhält Geschichte einen rein menschlichen
Inhalt. Denn kein Vorgang ist an und für sich historisch-tragisch;
er wird es erst durch den Sinn derer, die ihn erleben; sonst bleibt
das, was die Menschheit betrifft, ebenso erhaben gleichgültig, wie alle
anderen Naturphänomene. Auf die christliche Idee komme ich bald
zurück. Hier sollte nur angedeutet werden, erstens, wie tief und
wie sichtbar das Christentum umgestaltend auf das menschliche Fühlen
und Thun wirkt — wofür wir noch die lebendigen Beweise dicht

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[44/0067] Das Erbe der alten Welt. Zeit. Das hat gewiss seine Berechtigung; es musste so kommen; nichtsdestoweniger ist es eine Thatsache, dass die Türkei das letzte Stückchen von Europa ist, wo eine ganze Bevölkerung in ungestörtem Glück und Wohlbehagen lebt, eine Bevölkerung, die von sozialen Fragen, vom bittern Kampf ums Dasein und dergleichen nichts weiss, wo es keine grossen Vermögen giebt und buchstäblich gar keinen Pauperismus, wo Alle eine einzige brüderliche Familie bilden und Keiner auf Kosten des Anderen nach Reichtum strebt. Ich rede nicht das nach, was Zeitungen und Bücher berichten, sondern ich bezeuge, was ich aus eigener Anschauung weiss. Hätte der Mohammedaner nicht Toleranz zu einer Zeit geübt, wo dieser Begriff im übrigen Europa unbekannt war, es würde jetzt in den Balkanländern und in Kleinasien idyllischer Frieden herrschen. Der Christ ist es, der hier die Hefe des Zwistes hineinwirft; und mit der Grausamkeit einer gedankenlos rückwirkenden Naturmacht erhebt sich der sonst humane Moslemite und vertilgt den Störenfried. Dem Christen behagt eben weder der weise Fatalismus des Mohammedaners, noch der kluge Indifferentismus des Chinesen. »Ich bin nicht gekommen, den Frieden, sondern das Schwert zu senden«, sagte Christus selber. Die christ- liche Idee kann, in einem gewissen Sinne, geradezu als eine anti- soziale bezeichnet werden. Zum Bewusstsein einer sonst nie geahnten persönlichen Würde erwacht, genügt dem Christen der einfache tierische Instinkt des Zusammenlebens nicht mehr; er will nicht mehr des Glückes der Bienen und der Ameisen teilhaftig sein. Bezeichnet man das Christentum kurzweg als die Religion der Liebe, so hat man seine Bedeutung für die Geschichte der Menschheit nur ober- flächlich gestreift. Das Wesentliche ist hier vielmehr dieses: durch das Christentum erhielt jeder Einzelne einen bisher nie geahnten, unmessbaren Wert (sogar »die Haare auf seinem Haupte sind von Gott alle gezählet«, Matth. X., 30); diesem inneren Wert entspricht das äussere Schicksal nicht, hierdurch ist das Leben tragisch geworden, und erst durch die Tragik erhält Geschichte einen rein menschlichen Inhalt. Denn kein Vorgang ist an und für sich historisch-tragisch; er wird es erst durch den Sinn derer, die ihn erleben; sonst bleibt das, was die Menschheit betrifft, ebenso erhaben gleichgültig, wie alle anderen Naturphänomene. Auf die christliche Idee komme ich bald zurück. Hier sollte nur angedeutet werden, erstens, wie tief und wie sichtbar das Christentum umgestaltend auf das menschliche Fühlen und Thun wirkt — wofür wir noch die lebendigen Beweise dicht

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 44. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/67>, abgerufen am 24.11.2024.