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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Das Erbe der alten Welt.
etwas zu finden; in der einen Stadt erstickte der Nützlichkeitsaber-
glaube, in der anderen die wissenschaftliche Elephantiasis nach und
nach jede Lebensregung. Zwar wurde die Gelehrsamkeit immer
grösser, die Anzahl bekannter Thatsachen vermehrte sich unaufhörlich,
die treibende Kraft jedoch nahm ab, anstatt zuzunehmen (welch
letzteres nötig gewesen wäre), und so erlebte die europäische Welt,
bei enormer Steigerung der Civilisation, einen progressiven Niedergang
der Kultur -- bis zur nackten Bestialität. Nichts dürfte für das Menschen-
geschlecht gefährlicher sein als Wissenschaft ohne Poesie, Civilisation
ohne Kultur.1)

Bei den Hellenen war der Verlauf ein ganz anderer. Solange
die Kunst unter ihnen blühte, schlug die Leuchte des Geistes auf
allen Gebieten hoch zum Himmel empor. Die Kraft, welche sich in
Homer bis zu einer gewaltigsten Individualität durchgerungen hatte,
lernte nun an ihm ihre Bestimmung erkennen, und zwar zunächst
im engeren Sinne der rein künstlerischen Gestaltung einer Welt des
schönen Scheines. Um den strahlenden Mittelpunkt herum entstand
ein unabsehbares Heer von Dichtern und eine reiche Skala von Dicht-
arten. Originalität bildete -- gleich von Homer an -- das Kenn-
zeichen griechischen Schaffens. Natürlich richteten sich untergeordnete
Kräfte nach den hervorragenderen; es gab aber so viele hervorragende,
und diese hatten so unendlich mannigfaltige Gattungen erfunden, dass
hierdurch auch die geringere Begabung in die Lage versetzt wurde,
das ihr genau Angemessene zu erwählen und ihr Höchstes zu leisten.
Ich rede nicht allein von der tonvermählten Wortdichtung, sondern
ebenfalls von jener unerreichten Blüte der Dichtung für das Auge,
welche im engsten Anschluss an jene, wie ein vielgeliebtes, jüngeres Ge-
schwister aufwuchs. Architektur, Plastik, Malerei, sie alle waren, gleich-
wie Epik, Lyrik, Dramatik, wie Hymnendichtung, Dithyrambik, Ode,
Roman und Epigramm, Strahlen von jenem selben Licht der Kunstsonne,
nur je nach dem einzelnen Auge verschieden gebrochen. Gewiss ist
es lächerlich, wenn Schulmänner zwischen Bildung und Ballast nicht
zu unterscheiden wissen und uns mit endlosen Aufzählungen un-
bedeutender griechischer Dichter und Bildhauer belästigen; die Em-
pörung hiergegen, welche am Schluss unseres Jahrhunderts sich mit
wachsender Ungeduld zu rühren beginnt, soll uns willkommen sein;
ehe wir aber die vielen überflüssigen Namen der verdienten Ver-

1) Vergl. in Kap. 9 die Ausführungen über China u. s. w.

Das Erbe der alten Welt.
etwas zu finden; in der einen Stadt erstickte der Nützlichkeitsaber-
glaube, in der anderen die wissenschaftliche Elephantiasis nach und
nach jede Lebensregung. Zwar wurde die Gelehrsamkeit immer
grösser, die Anzahl bekannter Thatsachen vermehrte sich unaufhörlich,
die treibende Kraft jedoch nahm ab, anstatt zuzunehmen (welch
letzteres nötig gewesen wäre), und so erlebte die europäische Welt,
bei enormer Steigerung der Civilisation, einen progressiven Niedergang
der Kultur — bis zur nackten Bestialität. Nichts dürfte für das Menschen-
geschlecht gefährlicher sein als Wissenschaft ohne Poesie, Civilisation
ohne Kultur.1)

Bei den Hellenen war der Verlauf ein ganz anderer. Solange
die Kunst unter ihnen blühte, schlug die Leuchte des Geistes auf
allen Gebieten hoch zum Himmel empor. Die Kraft, welche sich in
Homer bis zu einer gewaltigsten Individualität durchgerungen hatte,
lernte nun an ihm ihre Bestimmung erkennen, und zwar zunächst
im engeren Sinne der rein künstlerischen Gestaltung einer Welt des
schönen Scheines. Um den strahlenden Mittelpunkt herum entstand
ein unabsehbares Heer von Dichtern und eine reiche Skala von Dicht-
arten. Originalität bildete — gleich von Homer an — das Kenn-
zeichen griechischen Schaffens. Natürlich richteten sich untergeordnete
Kräfte nach den hervorragenderen; es gab aber so viele hervorragende,
und diese hatten so unendlich mannigfaltige Gattungen erfunden, dass
hierdurch auch die geringere Begabung in die Lage versetzt wurde,
das ihr genau Angemessene zu erwählen und ihr Höchstes zu leisten.
Ich rede nicht allein von der tonvermählten Wortdichtung, sondern
ebenfalls von jener unerreichten Blüte der Dichtung für das Auge,
welche im engsten Anschluss an jene, wie ein vielgeliebtes, jüngeres Ge-
schwister aufwuchs. Architektur, Plastik, Malerei, sie alle waren, gleich-
wie Epik, Lyrik, Dramatik, wie Hymnendichtung, Dithyrambik, Ode,
Roman und Epigramm, Strahlen von jenem selben Licht der Kunstsonne,
nur je nach dem einzelnen Auge verschieden gebrochen. Gewiss ist
es lächerlich, wenn Schulmänner zwischen Bildung und Ballast nicht
zu unterscheiden wissen und uns mit endlosen Aufzählungen un-
bedeutender griechischer Dichter und Bildhauer belästigen; die Em-
pörung hiergegen, welche am Schluss unseres Jahrhunderts sich mit
wachsender Ungeduld zu rühren beginnt, soll uns willkommen sein;
ehe wir aber die vielen überflüssigen Namen der verdienten Ver-

1) Vergl. in Kap. 9 die Ausführungen über China u. s. w.
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[72/0095] Das Erbe der alten Welt. etwas zu finden; in der einen Stadt erstickte der Nützlichkeitsaber- glaube, in der anderen die wissenschaftliche Elephantiasis nach und nach jede Lebensregung. Zwar wurde die Gelehrsamkeit immer grösser, die Anzahl bekannter Thatsachen vermehrte sich unaufhörlich, die treibende Kraft jedoch nahm ab, anstatt zuzunehmen (welch letzteres nötig gewesen wäre), und so erlebte die europäische Welt, bei enormer Steigerung der Civilisation, einen progressiven Niedergang der Kultur — bis zur nackten Bestialität. Nichts dürfte für das Menschen- geschlecht gefährlicher sein als Wissenschaft ohne Poesie, Civilisation ohne Kultur. 1) Bei den Hellenen war der Verlauf ein ganz anderer. Solange die Kunst unter ihnen blühte, schlug die Leuchte des Geistes auf allen Gebieten hoch zum Himmel empor. Die Kraft, welche sich in Homer bis zu einer gewaltigsten Individualität durchgerungen hatte, lernte nun an ihm ihre Bestimmung erkennen, und zwar zunächst im engeren Sinne der rein künstlerischen Gestaltung einer Welt des schönen Scheines. Um den strahlenden Mittelpunkt herum entstand ein unabsehbares Heer von Dichtern und eine reiche Skala von Dicht- arten. Originalität bildete — gleich von Homer an — das Kenn- zeichen griechischen Schaffens. Natürlich richteten sich untergeordnete Kräfte nach den hervorragenderen; es gab aber so viele hervorragende, und diese hatten so unendlich mannigfaltige Gattungen erfunden, dass hierdurch auch die geringere Begabung in die Lage versetzt wurde, das ihr genau Angemessene zu erwählen und ihr Höchstes zu leisten. Ich rede nicht allein von der tonvermählten Wortdichtung, sondern ebenfalls von jener unerreichten Blüte der Dichtung für das Auge, welche im engsten Anschluss an jene, wie ein vielgeliebtes, jüngeres Ge- schwister aufwuchs. Architektur, Plastik, Malerei, sie alle waren, gleich- wie Epik, Lyrik, Dramatik, wie Hymnendichtung, Dithyrambik, Ode, Roman und Epigramm, Strahlen von jenem selben Licht der Kunstsonne, nur je nach dem einzelnen Auge verschieden gebrochen. Gewiss ist es lächerlich, wenn Schulmänner zwischen Bildung und Ballast nicht zu unterscheiden wissen und uns mit endlosen Aufzählungen un- bedeutender griechischer Dichter und Bildhauer belästigen; die Em- pörung hiergegen, welche am Schluss unseres Jahrhunderts sich mit wachsender Ungeduld zu rühren beginnt, soll uns willkommen sein; ehe wir aber die vielen überflüssigen Namen der verdienten Ver- 1) Vergl. in Kap. 9 die Ausführungen über China u. s. w.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 72. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/95>, abgerufen am 15.05.2024.