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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899.

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Hellenische Kunst und Philosophie.
gessenheit übergeben, wollen wir doch das Phänomen in seiner Ge-
samtheit bewundern; es bezeugt eine ewig begehrenswerte Herrschaft
des guten Geschmacks, eine Feinheit des Urteils, wie sie bisher nicht
wiederkehrte, und einen weitverbreiteten, schöpferischen Drang. Die
griechische Kunst war ein wahrhaft lebendiges Wesen, darum lebt
sie noch heute: was lebt, ist unsterblich. Sie besass einen festen,
organischen Mittelpunkt und sie gehorchte einem unwillkürlichen und
darum unfehlbaren Gestaltungstrieb, der die üppigste Mannigfaltigkeit,
sogar die tollsten Auswüchse und die mindest bedeutenden Bruchteile
zu einem Ganzen verknüpfte. Kurz -- und wenn man mir die schein-
bare Tautologie verzeiht -- hellenische Kunst war eine künstlerische
Kunst, etwas, was kein Einzelner, auch nicht ein Homer bewirken
kann, sondern welches aus der Mitwirkung einer Gesamtheit entsteht.
Seither hat sich derartiges nie wieder ereignet, und deswegen lebt
griechische Kunst nicht allein noch jetzt bildend und ermahnend in
unserer Mitte, sondern die grössten unserer Künstler (unserer Dichter
in Handlungen, Tönen, Worten, Gestalten) haben, wie in den früheren
Jahrhunderten unserer Zeitrechnung, so auch noch in diesem Jahr-
hundert sich zu Griechenland hingezogen gefühlt wie zu einer Heimat.
Der Mann aus dem Volk weiss allerdings bei uns von griechischer
Kunst nur indirekt; für ihn haben die Götter nicht, wie für Epikur,
einen noch höheren Olymp bestiegen; von roher asiatischer Skepsis
und rohem asiatischem Aberglauben wurden sie herabgestürzt und sie
zerschellten; er begegnet ihnen aber auf unseren Brunnen und Theater-
vorhängen, im Park, wo er Sonntags frische Luft schöpft, und in
den Museen (wo die Plastik auf die Menge immer mehr Anziehung
ausübt als die Malerei). Der "Gebildete" trägt Brocken von dieser
Kunst als unverdauten Bildungsstoff im Kopfe: mehr Namen, als
lebendige Vorstellungen; jedoch begegnet er ihr zu viel auf Schritt
und Tritt, als dass er sie je ganz aus den Augen verlieren könnte;
sie hat an dem Aufbaue seines Geistesgerüstes oft mehr Anteil als
er selber weiss. Der Künstler aber -- und hiermit will ich jedes
künstlerische Gemüt bezeichnen -- kann nicht anders als voller Sehn-
sucht die Augen auf Griechenland richten, und zwar nicht allein wegen
der einzelnen dort entstandenen Werke -- seit dem Jahre 1200 ist auch
bei uns manches Herrliche geboren: Dante steht allein, Shakespeare
ist grösser und reicher als Sophokles, die Kunst eines Bach hat kein
Grieche auch nur ahnen können -- nein, was der Künstler dort
findet und was ihm bei uns fehlt, das ist das künstlerische

Hellenische Kunst und Philosophie.
gessenheit übergeben, wollen wir doch das Phänomen in seiner Ge-
samtheit bewundern; es bezeugt eine ewig begehrenswerte Herrschaft
des guten Geschmacks, eine Feinheit des Urteils, wie sie bisher nicht
wiederkehrte, und einen weitverbreiteten, schöpferischen Drang. Die
griechische Kunst war ein wahrhaft lebendiges Wesen, darum lebt
sie noch heute: was lebt, ist unsterblich. Sie besass einen festen,
organischen Mittelpunkt und sie gehorchte einem unwillkürlichen und
darum unfehlbaren Gestaltungstrieb, der die üppigste Mannigfaltigkeit,
sogar die tollsten Auswüchse und die mindest bedeutenden Bruchteile
zu einem Ganzen verknüpfte. Kurz — und wenn man mir die schein-
bare Tautologie verzeiht — hellenische Kunst war eine künstlerische
Kunst, etwas, was kein Einzelner, auch nicht ein Homer bewirken
kann, sondern welches aus der Mitwirkung einer Gesamtheit entsteht.
Seither hat sich derartiges nie wieder ereignet, und deswegen lebt
griechische Kunst nicht allein noch jetzt bildend und ermahnend in
unserer Mitte, sondern die grössten unserer Künstler (unserer Dichter
in Handlungen, Tönen, Worten, Gestalten) haben, wie in den früheren
Jahrhunderten unserer Zeitrechnung, so auch noch in diesem Jahr-
hundert sich zu Griechenland hingezogen gefühlt wie zu einer Heimat.
Der Mann aus dem Volk weiss allerdings bei uns von griechischer
Kunst nur indirekt; für ihn haben die Götter nicht, wie für Epikur,
einen noch höheren Olymp bestiegen; von roher asiatischer Skepsis
und rohem asiatischem Aberglauben wurden sie herabgestürzt und sie
zerschellten; er begegnet ihnen aber auf unseren Brunnen und Theater-
vorhängen, im Park, wo er Sonntags frische Luft schöpft, und in
den Museen (wo die Plastik auf die Menge immer mehr Anziehung
ausübt als die Malerei). Der »Gebildete« trägt Brocken von dieser
Kunst als unverdauten Bildungsstoff im Kopfe: mehr Namen, als
lebendige Vorstellungen; jedoch begegnet er ihr zu viel auf Schritt
und Tritt, als dass er sie je ganz aus den Augen verlieren könnte;
sie hat an dem Aufbaue seines Geistesgerüstes oft mehr Anteil als
er selber weiss. Der Künstler aber — und hiermit will ich jedes
künstlerische Gemüt bezeichnen — kann nicht anders als voller Sehn-
sucht die Augen auf Griechenland richten, und zwar nicht allein wegen
der einzelnen dort entstandenen Werke — seit dem Jahre 1200 ist auch
bei uns manches Herrliche geboren: Dante steht allein, Shakespeare
ist grösser und reicher als Sophokles, die Kunst eines Bach hat kein
Grieche auch nur ahnen können — nein, was der Künstler dort
findet und was ihm bei uns fehlt, das ist das künstlerische

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[73/0096] Hellenische Kunst und Philosophie. gessenheit übergeben, wollen wir doch das Phänomen in seiner Ge- samtheit bewundern; es bezeugt eine ewig begehrenswerte Herrschaft des guten Geschmacks, eine Feinheit des Urteils, wie sie bisher nicht wiederkehrte, und einen weitverbreiteten, schöpferischen Drang. Die griechische Kunst war ein wahrhaft lebendiges Wesen, darum lebt sie noch heute: was lebt, ist unsterblich. Sie besass einen festen, organischen Mittelpunkt und sie gehorchte einem unwillkürlichen und darum unfehlbaren Gestaltungstrieb, der die üppigste Mannigfaltigkeit, sogar die tollsten Auswüchse und die mindest bedeutenden Bruchteile zu einem Ganzen verknüpfte. Kurz — und wenn man mir die schein- bare Tautologie verzeiht — hellenische Kunst war eine künstlerische Kunst, etwas, was kein Einzelner, auch nicht ein Homer bewirken kann, sondern welches aus der Mitwirkung einer Gesamtheit entsteht. Seither hat sich derartiges nie wieder ereignet, und deswegen lebt griechische Kunst nicht allein noch jetzt bildend und ermahnend in unserer Mitte, sondern die grössten unserer Künstler (unserer Dichter in Handlungen, Tönen, Worten, Gestalten) haben, wie in den früheren Jahrhunderten unserer Zeitrechnung, so auch noch in diesem Jahr- hundert sich zu Griechenland hingezogen gefühlt wie zu einer Heimat. Der Mann aus dem Volk weiss allerdings bei uns von griechischer Kunst nur indirekt; für ihn haben die Götter nicht, wie für Epikur, einen noch höheren Olymp bestiegen; von roher asiatischer Skepsis und rohem asiatischem Aberglauben wurden sie herabgestürzt und sie zerschellten; er begegnet ihnen aber auf unseren Brunnen und Theater- vorhängen, im Park, wo er Sonntags frische Luft schöpft, und in den Museen (wo die Plastik auf die Menge immer mehr Anziehung ausübt als die Malerei). Der »Gebildete« trägt Brocken von dieser Kunst als unverdauten Bildungsstoff im Kopfe: mehr Namen, als lebendige Vorstellungen; jedoch begegnet er ihr zu viel auf Schritt und Tritt, als dass er sie je ganz aus den Augen verlieren könnte; sie hat an dem Aufbaue seines Geistesgerüstes oft mehr Anteil als er selber weiss. Der Künstler aber — und hiermit will ich jedes künstlerische Gemüt bezeichnen — kann nicht anders als voller Sehn- sucht die Augen auf Griechenland richten, und zwar nicht allein wegen der einzelnen dort entstandenen Werke — seit dem Jahre 1200 ist auch bei uns manches Herrliche geboren: Dante steht allein, Shakespeare ist grösser und reicher als Sophokles, die Kunst eines Bach hat kein Grieche auch nur ahnen können — nein, was der Künstler dort findet und was ihm bei uns fehlt, das ist das künstlerische

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 1. München 1899, S. 73. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen01_1899/96>, abgerufen am 15.05.2024.