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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Der Kampf.
führlich im zweiten Kapitel referiert und verweise hier darauf.1) Die
Welt war gewohnt, von Rom Gesetze zu erhalten, und zwar nur von
Rom; sie war es so gewohnt, dass selbst das getrennte byzantinische
Reich sich noch "römisch" nannte. Rom und Regieren waren synonyme
Ausdrücke geworden. Für die Menschen des Völkerchaos -- das ver-
gesse man nicht -- war Rom das Einzige, was sie zusammenhielt,
die einzige organisatorische Idee, der einzige Talisman gegen die herein-
brechenden Barbaren. Die Welt wird eben nicht allein von Interessen
regiert (wie mancher neueste Geschichtsschreiber lehrt), sondern vor
Allem von Ideen, selbst dann noch, wenn diese Ideen zu Worten sich
verflüchtigt haben; und so sehen wir denn das verwaiste, kaiserlose
Rom doch noch ein Prestige behalten, wie keine zweite Stadt Europa's.
Seit jeher hatte Rom für die Römer "die heilige Stadt" geheissen; dass
wir sie noch heute so nennen, ist keine christliche Gewohnheit, sondern
ein heidnisches Erbe; den alten Römern war eben, wie schon an
früherer Stelle (S. 136) hervorgehoben, das Vaterland und die Familie
das Heilige im Leben gewesen. Nunmehr freilich gab es keine Römer
mehr; dennoch blieb Rom die heilige Stadt. Bald gab es auch keinen
römischen Kaiser mehr (ausser dem Namen nach), doch ein Bruch-
stück der kaiserlichen Gewalt war zurückgeblieben: der Pontifex
maximus.
Auch hier war etwas vorgegangen, was mit der christlichen
Religion ursprünglich in keinerlei Zusammenhang stand. Früher, in
vorchristlichen Zeiten, war die vollständige Unterordnung des Priester-
tums unter die weltliche Macht ein Grundprinzip des römischen Staates
gewesen, man hatte die Priester geehrt, ihnen aber keinen Einfluss
auf das öffentliche Leben gestattet; einzig in Gewissenssachen hatten
sie Jurisdiction besessen, d. h. dass sie einem Selbstankläger (Beichte!)
eine Strafe zur Sühne seiner Schuld (Busse!) auferlegen, oder eventuell
ihn von dem öffentlichen Kult ausschliessen, ja, sogar mit dem gött-
lichen Bannfluch belegen konnten (Exkommunikation!). Doch als der
Kaiser alle Ämter der Republik in seinen Händen kumuliert hatte,
wurde es mehr und mehr Sitte, das Pontifikat als seine höchste Würde
zu betrachten, wodurch nach und nach der Begriff des Pontifex eine
Bedeutung erhielt, die er früher nie besessen hatte. Caesar war ja kein
Titel, sondern nur ein Eponym; pontifex maximus bezeichnete dagegen
fortan das höchste (und seit jeher das einzige lebenslängliche) Amt;
als pontifex war jetzt der Kaiser eine "geheiligte Majestät", und vor

1) Siehe namentlich S. 145 fg.

Der Kampf.
führlich im zweiten Kapitel referiert und verweise hier darauf.1) Die
Welt war gewohnt, von Rom Gesetze zu erhalten, und zwar nur von
Rom; sie war es so gewohnt, dass selbst das getrennte byzantinische
Reich sich noch »römisch« nannte. Rom und Regieren waren synonyme
Ausdrücke geworden. Für die Menschen des Völkerchaos — das ver-
gesse man nicht — war Rom das Einzige, was sie zusammenhielt,
die einzige organisatorische Idee, der einzige Talisman gegen die herein-
brechenden Barbaren. Die Welt wird eben nicht allein von Interessen
regiert (wie mancher neueste Geschichtsschreiber lehrt), sondern vor
Allem von Ideen, selbst dann noch, wenn diese Ideen zu Worten sich
verflüchtigt haben; und so sehen wir denn das verwaiste, kaiserlose
Rom doch noch ein Prestige behalten, wie keine zweite Stadt Europa’s.
Seit jeher hatte Rom für die Römer »die heilige Stadt« geheissen; dass
wir sie noch heute so nennen, ist keine christliche Gewohnheit, sondern
ein heidnisches Erbe; den alten Römern war eben, wie schon an
früherer Stelle (S. 136) hervorgehoben, das Vaterland und die Familie
das Heilige im Leben gewesen. Nunmehr freilich gab es keine Römer
mehr; dennoch blieb Rom die heilige Stadt. Bald gab es auch keinen
römischen Kaiser mehr (ausser dem Namen nach), doch ein Bruch-
stück der kaiserlichen Gewalt war zurückgeblieben: der Pontifex
maximus.
Auch hier war etwas vorgegangen, was mit der christlichen
Religion ursprünglich in keinerlei Zusammenhang stand. Früher, in
vorchristlichen Zeiten, war die vollständige Unterordnung des Priester-
tums unter die weltliche Macht ein Grundprinzip des römischen Staates
gewesen, man hatte die Priester geehrt, ihnen aber keinen Einfluss
auf das öffentliche Leben gestattet; einzig in Gewissenssachen hatten
sie Jurisdiction besessen, d. h. dass sie einem Selbstankläger (Beichte!)
eine Strafe zur Sühne seiner Schuld (Busse!) auferlegen, oder eventuell
ihn von dem öffentlichen Kult ausschliessen, ja, sogar mit dem gött-
lichen Bannfluch belegen konnten (Exkommunikation!). Doch als der
Kaiser alle Ämter der Republik in seinen Händen kumuliert hatte,
wurde es mehr und mehr Sitte, das Pontifikat als seine höchste Würde
zu betrachten, wodurch nach und nach der Begriff des Pontifex eine
Bedeutung erhielt, die er früher nie besessen hatte. Caesar war ja kein
Titel, sondern nur ein Eponym; pontifex maximus bezeichnete dagegen
fortan das höchste (und seit jeher das einzige lebenslängliche) Amt;
als pontifex war jetzt der Kaiser eine »geheiligte Majestät«, und vor

1) Siehe namentlich S. 145 fg.
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[628/0107] Der Kampf. führlich im zweiten Kapitel referiert und verweise hier darauf. 1) Die Welt war gewohnt, von Rom Gesetze zu erhalten, und zwar nur von Rom; sie war es so gewohnt, dass selbst das getrennte byzantinische Reich sich noch »römisch« nannte. Rom und Regieren waren synonyme Ausdrücke geworden. Für die Menschen des Völkerchaos — das ver- gesse man nicht — war Rom das Einzige, was sie zusammenhielt, die einzige organisatorische Idee, der einzige Talisman gegen die herein- brechenden Barbaren. Die Welt wird eben nicht allein von Interessen regiert (wie mancher neueste Geschichtsschreiber lehrt), sondern vor Allem von Ideen, selbst dann noch, wenn diese Ideen zu Worten sich verflüchtigt haben; und so sehen wir denn das verwaiste, kaiserlose Rom doch noch ein Prestige behalten, wie keine zweite Stadt Europa’s. Seit jeher hatte Rom für die Römer »die heilige Stadt« geheissen; dass wir sie noch heute so nennen, ist keine christliche Gewohnheit, sondern ein heidnisches Erbe; den alten Römern war eben, wie schon an früherer Stelle (S. 136) hervorgehoben, das Vaterland und die Familie das Heilige im Leben gewesen. Nunmehr freilich gab es keine Römer mehr; dennoch blieb Rom die heilige Stadt. Bald gab es auch keinen römischen Kaiser mehr (ausser dem Namen nach), doch ein Bruch- stück der kaiserlichen Gewalt war zurückgeblieben: der Pontifex maximus. Auch hier war etwas vorgegangen, was mit der christlichen Religion ursprünglich in keinerlei Zusammenhang stand. Früher, in vorchristlichen Zeiten, war die vollständige Unterordnung des Priester- tums unter die weltliche Macht ein Grundprinzip des römischen Staates gewesen, man hatte die Priester geehrt, ihnen aber keinen Einfluss auf das öffentliche Leben gestattet; einzig in Gewissenssachen hatten sie Jurisdiction besessen, d. h. dass sie einem Selbstankläger (Beichte!) eine Strafe zur Sühne seiner Schuld (Busse!) auferlegen, oder eventuell ihn von dem öffentlichen Kult ausschliessen, ja, sogar mit dem gött- lichen Bannfluch belegen konnten (Exkommunikation!). Doch als der Kaiser alle Ämter der Republik in seinen Händen kumuliert hatte, wurde es mehr und mehr Sitte, das Pontifikat als seine höchste Würde zu betrachten, wodurch nach und nach der Begriff des Pontifex eine Bedeutung erhielt, die er früher nie besessen hatte. Caesar war ja kein Titel, sondern nur ein Eponym; pontifex maximus bezeichnete dagegen fortan das höchste (und seit jeher das einzige lebenslängliche) Amt; als pontifex war jetzt der Kaiser eine »geheiligte Majestät«, und vor 1) Siehe namentlich S. 145 fg.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 628. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/107>, abgerufen am 24.11.2024.