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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Religion.
diesem "Vertreter des Göttlichen auf Erden"1) musste Jeder anbetend
sich verneigen -- ein Verhältnis, an welchem durch den Übertritt
der Kaiser zum Christentum zunächst nichts geändert wurde. Doch
hierzu kommt noch ein Anderes. An diesem heidnischen pontifex
maximus
hing eine weitere wichtige Vorstellung und zwar ebenfalls
schon seit den ältesten Zeiten: nicht sehr einflussreich nach aussen,
war er innerhalb der Geistlichkeit das unbeschränkte Oberhaupt; die
Priester waren es, die ihn wählten, sie erwählten aber in ihm ihren
lebenslänglichen Diktator; er allein ernannte die pontifices (die Bischöfe,
wie wir heute sagen würden), er allein besass in allen Fragen die
Religion betreffend das endgültige Entscheidungsrecht.2) Hatte nun
der Kaiser sich das Amt des pontifex maximus arrogiert, so durfte
später der pontifex maximus des Christentums mit noch grösserem
Recht sich seinerseits als Caesar et Imperator betrachten (siehe S. 615),
da er inzwischen thatsächlich das alles vereinigende Oberhaupt Europa's
geworden war.

Das ist der "Stuhl" (die seit den Tagen Numa's berühmte sella), den
der christliche Bischof im kaiserleeren Rom überkam, das ist die reiche
Erbschaft an Ansehen, Einfluss, Vorrechten, tausendjährig festgemauert,
die er antrat. Der arme Apostel Petrus hat wenig Verdienst darum.

Rom besass also, wenn nicht Bildung und Nationalcharakter, so
doch die unermesslichen Vorzüge fester Organisation und altgeheiligter
Tradition. Es dürfte unmöglich sein, den Einfluss der Form in mensch-
lichen Dingen zu überschätzen. Eine solche scheinbare Nebensache
z. B. wie die Auflegung der Hände zur Wahrung der materiellen,
sichtbaren, historischen Kontinuität ist etwas von so unmittelbarer
Wirkung auf die Phantasie, dass sie bei den Massen mehr wiegt, als
die tiefsten Spekulationen und die heiligsten Lebensbeispiele. Und das
alles ist altrömische Schule, altrömische Erbschaft aus der vorchristlichen
Zeit. Die alten Römer -- sonst erfindungsarm -- waren Meister in
der dramatischen Gestaltung wichtiger, symbolischer Handlungen ge-
wesen;3) die Neurömer bewahrten diese Traditionen. Und so fand denn
hier, und hier allein, das junge Christentum eine schon bestehende

1) Dass diese aus uralter heidnischer Zeit datierende römische Formel später
vom Concilium Tridentinum für den christlichen Papst aufgenommen wurde, haben
wir oben gesehen.
2) Diese Ausführungen nach Mommsen: Römisches Staatsrecht und mit Be-
nützung von Esmarch: Römische Rechtsgeschichte.
3) Siehe S. 166.

Religion.
diesem »Vertreter des Göttlichen auf Erden«1) musste Jeder anbetend
sich verneigen — ein Verhältnis, an welchem durch den Übertritt
der Kaiser zum Christentum zunächst nichts geändert wurde. Doch
hierzu kommt noch ein Anderes. An diesem heidnischen pontifex
maximus
hing eine weitere wichtige Vorstellung und zwar ebenfalls
schon seit den ältesten Zeiten: nicht sehr einflussreich nach aussen,
war er innerhalb der Geistlichkeit das unbeschränkte Oberhaupt; die
Priester waren es, die ihn wählten, sie erwählten aber in ihm ihren
lebenslänglichen Diktator; er allein ernannte die pontifices (die Bischöfe,
wie wir heute sagen würden), er allein besass in allen Fragen die
Religion betreffend das endgültige Entscheidungsrecht.2) Hatte nun
der Kaiser sich das Amt des pontifex maximus arrogiert, so durfte
später der pontifex maximus des Christentums mit noch grösserem
Recht sich seinerseits als Caesar et Imperator betrachten (siehe S. 615),
da er inzwischen thatsächlich das alles vereinigende Oberhaupt Europa’s
geworden war.

Das ist der »Stuhl« (die seit den Tagen Numa’s berühmte sella), den
der christliche Bischof im kaiserleeren Rom überkam, das ist die reiche
Erbschaft an Ansehen, Einfluss, Vorrechten, tausendjährig festgemauert,
die er antrat. Der arme Apostel Petrus hat wenig Verdienst darum.

Rom besass also, wenn nicht Bildung und Nationalcharakter, so
doch die unermesslichen Vorzüge fester Organisation und altgeheiligter
Tradition. Es dürfte unmöglich sein, den Einfluss der Form in mensch-
lichen Dingen zu überschätzen. Eine solche scheinbare Nebensache
z. B. wie die Auflegung der Hände zur Wahrung der materiellen,
sichtbaren, historischen Kontinuität ist etwas von so unmittelbarer
Wirkung auf die Phantasie, dass sie bei den Massen mehr wiegt, als
die tiefsten Spekulationen und die heiligsten Lebensbeispiele. Und das
alles ist altrömische Schule, altrömische Erbschaft aus der vorchristlichen
Zeit. Die alten Römer — sonst erfindungsarm — waren Meister in
der dramatischen Gestaltung wichtiger, symbolischer Handlungen ge-
wesen;3) die Neurömer bewahrten diese Traditionen. Und so fand denn
hier, und hier allein, das junge Christentum eine schon bestehende

1) Dass diese aus uralter heidnischer Zeit datierende römische Formel später
vom Concilium Tridentinum für den christlichen Papst aufgenommen wurde, haben
wir oben gesehen.
2) Diese Ausführungen nach Mommsen: Römisches Staatsrecht und mit Be-
nützung von Esmarch: Römische Rechtsgeschichte.
3) Siehe S. 166.
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[629/0108] Religion. diesem »Vertreter des Göttlichen auf Erden« 1) musste Jeder anbetend sich verneigen — ein Verhältnis, an welchem durch den Übertritt der Kaiser zum Christentum zunächst nichts geändert wurde. Doch hierzu kommt noch ein Anderes. An diesem heidnischen pontifex maximus hing eine weitere wichtige Vorstellung und zwar ebenfalls schon seit den ältesten Zeiten: nicht sehr einflussreich nach aussen, war er innerhalb der Geistlichkeit das unbeschränkte Oberhaupt; die Priester waren es, die ihn wählten, sie erwählten aber in ihm ihren lebenslänglichen Diktator; er allein ernannte die pontifices (die Bischöfe, wie wir heute sagen würden), er allein besass in allen Fragen die Religion betreffend das endgültige Entscheidungsrecht. 2) Hatte nun der Kaiser sich das Amt des pontifex maximus arrogiert, so durfte später der pontifex maximus des Christentums mit noch grösserem Recht sich seinerseits als Caesar et Imperator betrachten (siehe S. 615), da er inzwischen thatsächlich das alles vereinigende Oberhaupt Europa’s geworden war. Das ist der »Stuhl« (die seit den Tagen Numa’s berühmte sella), den der christliche Bischof im kaiserleeren Rom überkam, das ist die reiche Erbschaft an Ansehen, Einfluss, Vorrechten, tausendjährig festgemauert, die er antrat. Der arme Apostel Petrus hat wenig Verdienst darum. Rom besass also, wenn nicht Bildung und Nationalcharakter, so doch die unermesslichen Vorzüge fester Organisation und altgeheiligter Tradition. Es dürfte unmöglich sein, den Einfluss der Form in mensch- lichen Dingen zu überschätzen. Eine solche scheinbare Nebensache z. B. wie die Auflegung der Hände zur Wahrung der materiellen, sichtbaren, historischen Kontinuität ist etwas von so unmittelbarer Wirkung auf die Phantasie, dass sie bei den Massen mehr wiegt, als die tiefsten Spekulationen und die heiligsten Lebensbeispiele. Und das alles ist altrömische Schule, altrömische Erbschaft aus der vorchristlichen Zeit. Die alten Römer — sonst erfindungsarm — waren Meister in der dramatischen Gestaltung wichtiger, symbolischer Handlungen ge- wesen; 3) die Neurömer bewahrten diese Traditionen. Und so fand denn hier, und hier allein, das junge Christentum eine schon bestehende 1) Dass diese aus uralter heidnischer Zeit datierende römische Formel später vom Concilium Tridentinum für den christlichen Papst aufgenommen wurde, haben wir oben gesehen. 2) Diese Ausführungen nach Mommsen: Römisches Staatsrecht und mit Be- nützung von Esmarch: Römische Rechtsgeschichte. 3) Siehe S. 166.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 629. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/108>, abgerufen am 21.11.2024.