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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Religion.
durchaus nicht religiösen Genese stammt auch die imponierende Idee
strengster Einheitlichkeit in Glauben und Kultus. Ein Staat muss offenbar
eine einzige, überall gültige, logisch ausgearbeitete Verfassung besitzen;
die Individuen im Staate können nicht nach Belieben Recht sprechen,
sondern müssen, ob sie wollen oder nicht, dem Gesetz unterthan sein;
das alles verstanden diese rechtsanwältlichen Kirchendoktoren und
rechtskundigen Bischöfe sehr gut, und das galt ihnen auch auf religiösem
Gebiete als Norm. Dieser enge Zusammenhang der römischen Kirche
mit dem römischen Recht fand darin sichtbaren Ausdruck, dass die
Kirche jahrhundertelang unter der Jurisdiktion dieses Rechtes stand
und alle Priester in allen Ländern eo ipso als Römer betrachtet wurden
und die vielen Privilegien genossen, die an dieses rechtliche Verhältnis
geknüpft waren.1) Die Bekehrung der europäischen Welt aber zu diesem
politischen und juristischen Christentum geschah nicht, wie so häufig
behauptet, durch ein göttliches Wunder, sondern auf dem nüchternen
Wege des Zwanges. Schon der fromme Eusebius (der lange vor
Theodosius lebte) klagt über "die unaussprechliche Heuchelei und
Verstellung der angeblichen Christen"; sobald das Christentum die
offizielle Religion des Reiches geworden war, brauchte man nicht
einmal mehr zu heucheln; man ward Christ, wie man seine Steuern
zahlt, und "römischer Christ", weil man dem Kaiser geben muss,
was des Kaisers ist; jetzt war ja die Religion ebenso wie der Erd-
boden des Kaisers Eigentum geworden.

Das Christentum als obligatorische Weltreligion ist also nach-
weisbar ein römischer Imperialgedanke, nicht eine religiöse Idee.
Als nun das weltliche Imperium verblasste und hinschwand, blieb
dieser Gedanke zurück; die von den Kaisern dekretierte Religion sollte
den Kitt abgeben für die aus den Fugen geratene Welt; allen Menschen
geschah dadurch eine Wohlthat und darum gravitierten die Vernünftigeren
immer wieder nach Rom zu, denn dort allein fand man nicht blossen
religiösen Enthusiasmus, sondern eine schon bestehende, praktische
Organisation, die sich auch nach allen Seiten unermüdet bethätigte,
jede Gegenbewegung mit allen Mitteln niederzuschlagen bestrebt war,
Menschenkenntnis, diplomatische Gewandtheit und vor Allem eine
mittlere, unverrückbare Achse besass -- Bewegung nicht ausschliessend,
doch Bestand verbürgend -- nämlich, das unbedingte Primat Rom's,

hatte der gesunde Sinn des freien römischen Volkes diesem nie gestattet, praktischen
Einfluss zu gewinnen. (Siehe Mommsen: a. a. O., S. 95.)
1) Savigny: Römisches Recht im Mittelalter, Band I, Kap. 3.

Religion.
durchaus nicht religiösen Genese stammt auch die imponierende Idee
strengster Einheitlichkeit in Glauben und Kultus. Ein Staat muss offenbar
eine einzige, überall gültige, logisch ausgearbeitete Verfassung besitzen;
die Individuen im Staate können nicht nach Belieben Recht sprechen,
sondern müssen, ob sie wollen oder nicht, dem Gesetz unterthan sein;
das alles verstanden diese rechtsanwältlichen Kirchendoktoren und
rechtskundigen Bischöfe sehr gut, und das galt ihnen auch auf religiösem
Gebiete als Norm. Dieser enge Zusammenhang der römischen Kirche
mit dem römischen Recht fand darin sichtbaren Ausdruck, dass die
Kirche jahrhundertelang unter der Jurisdiktion dieses Rechtes stand
und alle Priester in allen Ländern eo ipso als Römer betrachtet wurden
und die vielen Privilegien genossen, die an dieses rechtliche Verhältnis
geknüpft waren.1) Die Bekehrung der europäischen Welt aber zu diesem
politischen und juristischen Christentum geschah nicht, wie so häufig
behauptet, durch ein göttliches Wunder, sondern auf dem nüchternen
Wege des Zwanges. Schon der fromme Eusebius (der lange vor
Theodosius lebte) klagt über »die unaussprechliche Heuchelei und
Verstellung der angeblichen Christen«; sobald das Christentum die
offizielle Religion des Reiches geworden war, brauchte man nicht
einmal mehr zu heucheln; man ward Christ, wie man seine Steuern
zahlt, und »römischer Christ«, weil man dem Kaiser geben muss,
was des Kaisers ist; jetzt war ja die Religion ebenso wie der Erd-
boden des Kaisers Eigentum geworden.

Das Christentum als obligatorische Weltreligion ist also nach-
weisbar ein römischer Imperialgedanke, nicht eine religiöse Idee.
Als nun das weltliche Imperium verblasste und hinschwand, blieb
dieser Gedanke zurück; die von den Kaisern dekretierte Religion sollte
den Kitt abgeben für die aus den Fugen geratene Welt; allen Menschen
geschah dadurch eine Wohlthat und darum gravitierten die Vernünftigeren
immer wieder nach Rom zu, denn dort allein fand man nicht blossen
religiösen Enthusiasmus, sondern eine schon bestehende, praktische
Organisation, die sich auch nach allen Seiten unermüdet bethätigte,
jede Gegenbewegung mit allen Mitteln niederzuschlagen bestrebt war,
Menschenkenntnis, diplomatische Gewandtheit und vor Allem eine
mittlere, unverrückbare Achse besass — Bewegung nicht ausschliessend,
doch Bestand verbürgend — nämlich, das unbedingte Primat Rom’s,

hatte der gesunde Sinn des freien römischen Volkes diesem nie gestattet, praktischen
Einfluss zu gewinnen. (Siehe Mommsen: a. a. O., S. 95.)
1) Savigny: Römisches Recht im Mittelalter, Band I, Kap. 3.
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[631/0110] Religion. durchaus nicht religiösen Genese stammt auch die imponierende Idee strengster Einheitlichkeit in Glauben und Kultus. Ein Staat muss offenbar eine einzige, überall gültige, logisch ausgearbeitete Verfassung besitzen; die Individuen im Staate können nicht nach Belieben Recht sprechen, sondern müssen, ob sie wollen oder nicht, dem Gesetz unterthan sein; das alles verstanden diese rechtsanwältlichen Kirchendoktoren und rechtskundigen Bischöfe sehr gut, und das galt ihnen auch auf religiösem Gebiete als Norm. Dieser enge Zusammenhang der römischen Kirche mit dem römischen Recht fand darin sichtbaren Ausdruck, dass die Kirche jahrhundertelang unter der Jurisdiktion dieses Rechtes stand und alle Priester in allen Ländern eo ipso als Römer betrachtet wurden und die vielen Privilegien genossen, die an dieses rechtliche Verhältnis geknüpft waren. 1) Die Bekehrung der europäischen Welt aber zu diesem politischen und juristischen Christentum geschah nicht, wie so häufig behauptet, durch ein göttliches Wunder, sondern auf dem nüchternen Wege des Zwanges. Schon der fromme Eusebius (der lange vor Theodosius lebte) klagt über »die unaussprechliche Heuchelei und Verstellung der angeblichen Christen«; sobald das Christentum die offizielle Religion des Reiches geworden war, brauchte man nicht einmal mehr zu heucheln; man ward Christ, wie man seine Steuern zahlt, und »römischer Christ«, weil man dem Kaiser geben muss, was des Kaisers ist; jetzt war ja die Religion ebenso wie der Erd- boden des Kaisers Eigentum geworden. Das Christentum als obligatorische Weltreligion ist also nach- weisbar ein römischer Imperialgedanke, nicht eine religiöse Idee. Als nun das weltliche Imperium verblasste und hinschwand, blieb dieser Gedanke zurück; die von den Kaisern dekretierte Religion sollte den Kitt abgeben für die aus den Fugen geratene Welt; allen Menschen geschah dadurch eine Wohlthat und darum gravitierten die Vernünftigeren immer wieder nach Rom zu, denn dort allein fand man nicht blossen religiösen Enthusiasmus, sondern eine schon bestehende, praktische Organisation, die sich auch nach allen Seiten unermüdet bethätigte, jede Gegenbewegung mit allen Mitteln niederzuschlagen bestrebt war, Menschenkenntnis, diplomatische Gewandtheit und vor Allem eine mittlere, unverrückbare Achse besass — Bewegung nicht ausschliessend, doch Bestand verbürgend — nämlich, das unbedingte Primat Rom’s, 3) 1) Savigny: Römisches Recht im Mittelalter, Band I, Kap. 3. 3) hatte der gesunde Sinn des freien römischen Volkes diesem nie gestattet, praktischen Einfluss zu gewinnen. (Siehe Mommsen: a. a. O., S. 95.)

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 631. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/110>, abgerufen am 21.11.2024.