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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Religion.
Wesen nach verändert. Trotzdem hält Augustinus den Standpunkt
fest, alle Sakramente seien stets nur Symbole. Sacrificia visibilia sunt
signa invisibilium, sicut verba sonantia signa rerum.
1) Die Hostie
verhält sich also, nach Augustinus, zum Leibe Christi wie das Wort
zum Ding. Wenn er nichtsdestoweniger beim Abendmahl eine that-
sächliche Mitteilung des Göttlichen lehrt, so handelt es sich folglich
um eine Mitteilung an das Gemüt und durch das Gemüt. Eine so
klare Aussage lässt zu gar keinen Deutungen Platz, und schliesst die
spätere römische Lehre des Messopfers aus.2) -- Schon diese äusserst
flüchtigen Bemerkungen werden genügen, damit selbst ein gänzlich
Uneingeweihter einsehen lerne, dass für die Auffassung der Eucharistie
zwei Wege offen standen: der eine war durch die idealeren, auf
das Geistige gerichteten Mysterien der reineren Hellenen gewiesen
(nunmehr durch das Leben Christi mit einem konkreten Inhalt als
"Erinnerungsfest" erfüllt), der andere schloss sich den semitischen und
ägyptischen Zauberlehren an, wollte in dem Brod und dem Wein den
thatsächlichen Leib Christi erblicken und durch seinen Genuss eine
magische Umwandlung bewirken lassen.

Diese zwei Richtungen3) gingen nun Jahrhunderte lang neben-
einander her, ohne dass es jemals zu einem entscheidenden dogmatischen
Kampfe gekommen wäre. Das Gefühl einer unheimlichen Gefahr mag
wohl zur Vermeidung desselben beigetragen haben; ausserdem wusste

1) De civitate Dei, Buch X, Kap. 19. Diese Lehre wurde später von Wyclif --
der eigentliche Brunnquell der Reformation -- fast wörtlich aufgenommen; denn
er schreibt von der Hostie: "non est corpus dominicum sed efficax ejus signum".
2) Erst Gregor der Grosse (um das Jahr 600) lehrte, die Messe bedeute
eine thatsächliche Wiederholung des Opfers Christi am Kreuz, wodurch das Abend-
mahl ausser der sakramentalen (heidnischen) Bedeutung noch eine sakrifizielle
(jüdische) erhielt.
3) In Wirklichkeit giebt es nur zwei. Wer den geringsten Einblick in den
Hexenkessel theologischer Sophistik gethan hat, wird mir Dank wissen, dass ich
durch die äusserste Vereinfachung nicht allein Klarheit, sondern auch Wahrhaftigkeit
in diesen verworrenen Gegenstand hineinzubringen suche, der, teils in Folge der
klügsten Berechnung habgieriger Pfaffen, teils durch den religiösen Wahn auf-
richtiger doch schlecht equilibrierter Geister der eigentliche Fechtboden geworden
ist für alle spitzfindige Narrheiten und tiefsinnige Undenkbarkeiten. Hier namentlich
liegt die Erbsünde aller protestantischen Kirchen; denn sie empörten sich gegen
die römische Lehre vom Messopfer und von der Transsubstantiation, und hatten
dennoch nie den Mut, mit den völkerchaotischen Superstitionen aufzuräumen,
sondern nahmen ihre Zuflucht zu elenden Sophistereien und schwankten bis zum
heutigen Tage in charakterloser Unentschiedenheit hin und her auf dialektischen
Nadelspitzen, ohne je festen Boden zu betreten.

Religion.
Wesen nach verändert. Trotzdem hält Augustinus den Standpunkt
fest, alle Sakramente seien stets nur Symbole. Sacrificia visibilia sunt
signa invisibilium, sicut verba sonantia signa rerum.
1) Die Hostie
verhält sich also, nach Augustinus, zum Leibe Christi wie das Wort
zum Ding. Wenn er nichtsdestoweniger beim Abendmahl eine that-
sächliche Mitteilung des Göttlichen lehrt, so handelt es sich folglich
um eine Mitteilung an das Gemüt und durch das Gemüt. Eine so
klare Aussage lässt zu gar keinen Deutungen Platz, und schliesst die
spätere römische Lehre des Messopfers aus.2) — Schon diese äusserst
flüchtigen Bemerkungen werden genügen, damit selbst ein gänzlich
Uneingeweihter einsehen lerne, dass für die Auffassung der Eucharistie
zwei Wege offen standen: der eine war durch die idealeren, auf
das Geistige gerichteten Mysterien der reineren Hellenen gewiesen
(nunmehr durch das Leben Christi mit einem konkreten Inhalt als
»Erinnerungsfest« erfüllt), der andere schloss sich den semitischen und
ägyptischen Zauberlehren an, wollte in dem Brod und dem Wein den
thatsächlichen Leib Christi erblicken und durch seinen Genuss eine
magische Umwandlung bewirken lassen.

Diese zwei Richtungen3) gingen nun Jahrhunderte lang neben-
einander her, ohne dass es jemals zu einem entscheidenden dogmatischen
Kampfe gekommen wäre. Das Gefühl einer unheimlichen Gefahr mag
wohl zur Vermeidung desselben beigetragen haben; ausserdem wusste

1) De civitate Dei, Buch X, Kap. 19. Diese Lehre wurde später von Wyclif —
der eigentliche Brunnquell der Reformation — fast wörtlich aufgenommen; denn
er schreibt von der Hostie: »non est corpus dominicum sed efficax ejus signum«.
2) Erst Gregor der Grosse (um das Jahr 600) lehrte, die Messe bedeute
eine thatsächliche Wiederholung des Opfers Christi am Kreuz, wodurch das Abend-
mahl ausser der sakramentalen (heidnischen) Bedeutung noch eine sakrifizielle
(jüdische) erhielt.
3) In Wirklichkeit giebt es nur zwei. Wer den geringsten Einblick in den
Hexenkessel theologischer Sophistik gethan hat, wird mir Dank wissen, dass ich
durch die äusserste Vereinfachung nicht allein Klarheit, sondern auch Wahrhaftigkeit
in diesen verworrenen Gegenstand hineinzubringen suche, der, teils in Folge der
klügsten Berechnung habgieriger Pfaffen, teils durch den religiösen Wahn auf-
richtiger doch schlecht equilibrierter Geister der eigentliche Fechtboden geworden
ist für alle spitzfindige Narrheiten und tiefsinnige Undenkbarkeiten. Hier namentlich
liegt die Erbsünde aller protestantischen Kirchen; denn sie empörten sich gegen
die römische Lehre vom Messopfer und von der Transsubstantiation, und hatten
dennoch nie den Mut, mit den völkerchaotischen Superstitionen aufzuräumen,
sondern nahmen ihre Zuflucht zu elenden Sophistereien und schwankten bis zum
heutigen Tage in charakterloser Unentschiedenheit hin und her auf dialektischen
Nadelspitzen, ohne je festen Boden zu betreten.
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[639/0118] Religion. Wesen nach verändert. Trotzdem hält Augustinus den Standpunkt fest, alle Sakramente seien stets nur Symbole. Sacrificia visibilia sunt signa invisibilium, sicut verba sonantia signa rerum. 1) Die Hostie verhält sich also, nach Augustinus, zum Leibe Christi wie das Wort zum Ding. Wenn er nichtsdestoweniger beim Abendmahl eine that- sächliche Mitteilung des Göttlichen lehrt, so handelt es sich folglich um eine Mitteilung an das Gemüt und durch das Gemüt. Eine so klare Aussage lässt zu gar keinen Deutungen Platz, und schliesst die spätere römische Lehre des Messopfers aus. 2) — Schon diese äusserst flüchtigen Bemerkungen werden genügen, damit selbst ein gänzlich Uneingeweihter einsehen lerne, dass für die Auffassung der Eucharistie zwei Wege offen standen: der eine war durch die idealeren, auf das Geistige gerichteten Mysterien der reineren Hellenen gewiesen (nunmehr durch das Leben Christi mit einem konkreten Inhalt als »Erinnerungsfest« erfüllt), der andere schloss sich den semitischen und ägyptischen Zauberlehren an, wollte in dem Brod und dem Wein den thatsächlichen Leib Christi erblicken und durch seinen Genuss eine magische Umwandlung bewirken lassen. Diese zwei Richtungen 3) gingen nun Jahrhunderte lang neben- einander her, ohne dass es jemals zu einem entscheidenden dogmatischen Kampfe gekommen wäre. Das Gefühl einer unheimlichen Gefahr mag wohl zur Vermeidung desselben beigetragen haben; ausserdem wusste 1) De civitate Dei, Buch X, Kap. 19. Diese Lehre wurde später von Wyclif — der eigentliche Brunnquell der Reformation — fast wörtlich aufgenommen; denn er schreibt von der Hostie: »non est corpus dominicum sed efficax ejus signum«. 2) Erst Gregor der Grosse (um das Jahr 600) lehrte, die Messe bedeute eine thatsächliche Wiederholung des Opfers Christi am Kreuz, wodurch das Abend- mahl ausser der sakramentalen (heidnischen) Bedeutung noch eine sakrifizielle (jüdische) erhielt. 3) In Wirklichkeit giebt es nur zwei. Wer den geringsten Einblick in den Hexenkessel theologischer Sophistik gethan hat, wird mir Dank wissen, dass ich durch die äusserste Vereinfachung nicht allein Klarheit, sondern auch Wahrhaftigkeit in diesen verworrenen Gegenstand hineinzubringen suche, der, teils in Folge der klügsten Berechnung habgieriger Pfaffen, teils durch den religiösen Wahn auf- richtiger doch schlecht equilibrierter Geister der eigentliche Fechtboden geworden ist für alle spitzfindige Narrheiten und tiefsinnige Undenkbarkeiten. Hier namentlich liegt die Erbsünde aller protestantischen Kirchen; denn sie empörten sich gegen die römische Lehre vom Messopfer und von der Transsubstantiation, und hatten dennoch nie den Mut, mit den völkerchaotischen Superstitionen aufzuräumen, sondern nahmen ihre Zuflucht zu elenden Sophistereien und schwankten bis zum heutigen Tage in charakterloser Unentschiedenheit hin und her auf dialektischen Nadelspitzen, ohne je festen Boden zu betreten.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 639. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/118>, abgerufen am 24.11.2024.