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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Der Kampf.
Rom, welches schon längst stillschweigend den zweiten Weg gewählt,
dass es die bedeutendsten Kirchenväter gegen sich hatte, sowie die älteste
Tradition. Wiederum war es der allzu gewissenhafte Norden, der die
Brandfackel in diese idyllische Ruhe warf, wo unter der Stola einer
einzigen universellen und unfehlbaren Kirche die Menschen zwei ver-
schiedenen Religionen lebten. Im 9. Jahrhundert lehrte zum ersten Male
als unumstössliches Dogma der Abt Radbert in seinem Buche Liber de
corpore et sanguine Domini
die magische Verwandlung des Brotes in den
objektiv vorhandenen Leib Christi, der auf Alle, welche ihn genössen --
auch auf Unwissende und Ungläubige -- eine magische, Unsterblichkeit
verleihende Wirkung ausübe. Und wer nahm den Handschuh auf?
Nicht in der rapidesten Übersicht darf eine derartige Thatsache über-
gangen werden: es war der König der Franken! später unterstützt
vom König von England! Wie immer, war der erste Instinkt der
richtige; die germanischen Fürsten ahnten sofort, es gehe an ihre
nationale Unabhängigkeit.1) Im Auftrag Karl's des Kahlen widerlegte
zuerst Ratramnus, später der grosse Scotus Erigena diese Lehre Radbert's.
Dass es sich hier nicht um eine beliebige theologische Disputiererei
handelte, ersehen wir daraus, dass jener selbe Scotus Erigena ein
ganzes origenistisch angehauchtes System, eine Idealreligion vorträgt,
in welcher die heilige Schrift und ihre Lehren als "Symbolik des
Unaussprechlichen" (res ineffabilis, incomprehensibilis) aufgefasst, der
Unterschied zwischen Gut und Böse als metaphysisch unhaltbar nach-
gewiesen wird u. s. w.; und dass genau in demselben Augenblick der
bewundernswerte Graf Gottschalk, im Anschluss an Augustinus, die
Lehre von der göttlichen Gnade und von der Prädestination entwickelt.
Jetzt liess sich der Streit nicht mehr diplomatisch beilegen. Der ger-
manische Geist begann zu erwachen; Rom durfte ihn nicht gewähren
lassen, sonst war seine Macht bald dahin. Gottschalk wurde von
den kirchlichen Machthabern öffentlich fast zu Tode gegeisselt und
sodann lebenslänglichen Kerkerqualen übergeben; Scotus, der recht-
zeitig in seine englische Heimat geflüchtet war, wurde im Auftrag
Rom's von Mönchen meuchlerisch ermordet. Auf diese Weise wurde
nun während Jahrhunderte über die Natur des Abendmahles ver-
handelt. Die Päpste verhielten sich persönlich allerdings noch immer
sehr reserviert, fast zweideutig; ihnen lag mehr am Zusammenhalten

1) Höchst bemerkenswert ist es, dass bei den alten Mysterien die Teilnahme
daran die Angehörigkeit zur angestammten Nation ausdrücklich aufhob! Die
Eingeweihten bildeten eine internationale, extranationale Familie.

Der Kampf.
Rom, welches schon längst stillschweigend den zweiten Weg gewählt,
dass es die bedeutendsten Kirchenväter gegen sich hatte, sowie die älteste
Tradition. Wiederum war es der allzu gewissenhafte Norden, der die
Brandfackel in diese idyllische Ruhe warf, wo unter der Stola einer
einzigen universellen und unfehlbaren Kirche die Menschen zwei ver-
schiedenen Religionen lebten. Im 9. Jahrhundert lehrte zum ersten Male
als unumstössliches Dogma der Abt Radbert in seinem Buche Liber de
corpore et sanguine Domini
die magische Verwandlung des Brotes in den
objektiv vorhandenen Leib Christi, der auf Alle, welche ihn genössen —
auch auf Unwissende und Ungläubige — eine magische, Unsterblichkeit
verleihende Wirkung ausübe. Und wer nahm den Handschuh auf?
Nicht in der rapidesten Übersicht darf eine derartige Thatsache über-
gangen werden: es war der König der Franken! später unterstützt
vom König von England! Wie immer, war der erste Instinkt der
richtige; die germanischen Fürsten ahnten sofort, es gehe an ihre
nationale Unabhängigkeit.1) Im Auftrag Karl’s des Kahlen widerlegte
zuerst Ratramnus, später der grosse Scotus Erigena diese Lehre Radbert’s.
Dass es sich hier nicht um eine beliebige theologische Disputiererei
handelte, ersehen wir daraus, dass jener selbe Scotus Erigena ein
ganzes origenistisch angehauchtes System, eine Idealreligion vorträgt,
in welcher die heilige Schrift und ihre Lehren als »Symbolik des
Unaussprechlichen« (res ineffabilis, incomprehensibilis) aufgefasst, der
Unterschied zwischen Gut und Böse als metaphysisch unhaltbar nach-
gewiesen wird u. s. w.; und dass genau in demselben Augenblick der
bewundernswerte Graf Gottschalk, im Anschluss an Augustinus, die
Lehre von der göttlichen Gnade und von der Prädestination entwickelt.
Jetzt liess sich der Streit nicht mehr diplomatisch beilegen. Der ger-
manische Geist begann zu erwachen; Rom durfte ihn nicht gewähren
lassen, sonst war seine Macht bald dahin. Gottschalk wurde von
den kirchlichen Machthabern öffentlich fast zu Tode gegeisselt und
sodann lebenslänglichen Kerkerqualen übergeben; Scotus, der recht-
zeitig in seine englische Heimat geflüchtet war, wurde im Auftrag
Rom’s von Mönchen meuchlerisch ermordet. Auf diese Weise wurde
nun während Jahrhunderte über die Natur des Abendmahles ver-
handelt. Die Päpste verhielten sich persönlich allerdings noch immer
sehr reserviert, fast zweideutig; ihnen lag mehr am Zusammenhalten

1) Höchst bemerkenswert ist es, dass bei den alten Mysterien die Teilnahme
daran die Angehörigkeit zur angestammten Nation ausdrücklich aufhob! Die
Eingeweihten bildeten eine internationale, extranationale Familie.
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[640/0119] Der Kampf. Rom, welches schon längst stillschweigend den zweiten Weg gewählt, dass es die bedeutendsten Kirchenväter gegen sich hatte, sowie die älteste Tradition. Wiederum war es der allzu gewissenhafte Norden, der die Brandfackel in diese idyllische Ruhe warf, wo unter der Stola einer einzigen universellen und unfehlbaren Kirche die Menschen zwei ver- schiedenen Religionen lebten. Im 9. Jahrhundert lehrte zum ersten Male als unumstössliches Dogma der Abt Radbert in seinem Buche Liber de corpore et sanguine Domini die magische Verwandlung des Brotes in den objektiv vorhandenen Leib Christi, der auf Alle, welche ihn genössen — auch auf Unwissende und Ungläubige — eine magische, Unsterblichkeit verleihende Wirkung ausübe. Und wer nahm den Handschuh auf? Nicht in der rapidesten Übersicht darf eine derartige Thatsache über- gangen werden: es war der König der Franken! später unterstützt vom König von England! Wie immer, war der erste Instinkt der richtige; die germanischen Fürsten ahnten sofort, es gehe an ihre nationale Unabhängigkeit. 1) Im Auftrag Karl’s des Kahlen widerlegte zuerst Ratramnus, später der grosse Scotus Erigena diese Lehre Radbert’s. Dass es sich hier nicht um eine beliebige theologische Disputiererei handelte, ersehen wir daraus, dass jener selbe Scotus Erigena ein ganzes origenistisch angehauchtes System, eine Idealreligion vorträgt, in welcher die heilige Schrift und ihre Lehren als »Symbolik des Unaussprechlichen« (res ineffabilis, incomprehensibilis) aufgefasst, der Unterschied zwischen Gut und Böse als metaphysisch unhaltbar nach- gewiesen wird u. s. w.; und dass genau in demselben Augenblick der bewundernswerte Graf Gottschalk, im Anschluss an Augustinus, die Lehre von der göttlichen Gnade und von der Prädestination entwickelt. Jetzt liess sich der Streit nicht mehr diplomatisch beilegen. Der ger- manische Geist begann zu erwachen; Rom durfte ihn nicht gewähren lassen, sonst war seine Macht bald dahin. Gottschalk wurde von den kirchlichen Machthabern öffentlich fast zu Tode gegeisselt und sodann lebenslänglichen Kerkerqualen übergeben; Scotus, der recht- zeitig in seine englische Heimat geflüchtet war, wurde im Auftrag Rom’s von Mönchen meuchlerisch ermordet. Auf diese Weise wurde nun während Jahrhunderte über die Natur des Abendmahles ver- handelt. Die Päpste verhielten sich persönlich allerdings noch immer sehr reserviert, fast zweideutig; ihnen lag mehr am Zusammenhalten 1) Höchst bemerkenswert ist es, dass bei den alten Mysterien die Teilnahme daran die Angehörigkeit zur angestammten Nation ausdrücklich aufhob! Die Eingeweihten bildeten eine internationale, extranationale Familie.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 640. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/119>, abgerufen am 24.11.2024.