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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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des universalistischen Ideals hinzufügen. Zwar ist sie nicht unentbehrlich
für die Beurteilung des 19. Jahrhunderts, die Sache wurde aber gerade in
unseren Tagen viel besprochen und zwar vielfach zum Nachteil des ge-
sunden Menschenverstandes; immer wieder wird sie von der universalisti-
schen, d. h. von der römischen Partei aufgefrischt, und manche sonst gute
Urteilskraft wird durch das geschickt dargestellte, doch gänzlich unhalt-
bare Paradoxon irregeführt. Ich meine die Theorie der duplex potestas,
der zweiköpfigen Gewalt. Den meisten Gebildeten ist sie hauptsächlich
aus Dante's De Monarchia bekannt, wenngleich sie früher und gleich-
zeitig und auch später von Anderen vorgetragen wurde. Bei aller Ver-
ehrung für den gewaltigen Dichter glaube ich kaum, dass ein politisch
urteilsfähiger und nicht von Parteileidenschaft geblendeter Mensch diese
Schrift aufmerksam lesen kann, ohne sie einfach ungeheuerlich zu finden.
Grossartig wirkt allerdings die Konsequenz und der Mut, womit Dante
dem Papste jede Spur von weltlicher Gewalt und weltlichem Besitze
abspricht; doch indem er die Fülle dieser Gewalt einem Anderen über-
trägt, indem er der Macht dieses Anderen die rein theokratische Quelle
unmittelbar göttlicher Einsetzung vindiziert, hat er nur einen Tyrannen
an die Stelle eines Anderen gesetzt. Von den Kurfürsten meint er,
man dürfe sie nicht "Wähler" nennen, sondern vielmehr "Verkündiger
der göttlichen Vorsehung" (III, 16); das ist ja die ungeschminkte
papale Theorie! Dann aber kommt erst die Ungeheuerlichkeit: neben
diesem unumschränkten, von Gott selbst "ohne irgend einen Ver-
mittler" eingesetzten Alleinherrscher giebt es noch einen, ebenfalls
von Gott selbst eingesetzten, ebenfalls unumschränkten Alleinherrscher,
den Papst! Denn "des Menschen Natur ist eine doppelte und bedarf
darum einer doppelten Leitung", nämlich "des Papstes, der in Ge-
mässheit der Offenbarung das Menschengeschlecht zum ewigen Leben
führt, und des Kaisers, der im Anschluss an die Lehren der Philo-
sophen die Menschen zur irdischen Glückseligkeit leiten soll". Schon
philosophisch ist dieser Gedanke eine Monstrosität; denn nach ihm
soll das Streben nach einem diesseitigen, rein irdischen Glück Hand
in Hand mit der Erlangung eines jenseitigen ewigen Glückes gehen;
praktisch bedeutet er die unhaltbarste Wahnvorstellung, die jemals
ein Dichterhirn ausbrütete. Wir dürfen als axiomatische Wahrheit
annehmen, dass Universalismus Absolutismus impliziert, d. h. Unbe-
dingtheit; wie könnten denn zwei unbedingte Herrscher nebeneinander-
stehen? Nicht einen Schritt kann der Eine machen, ohne den Anderen
zu "bedingen". Wo soll man eine Grenze zwischen der Jurisdiktion

Staat.
des universalistischen Ideals hinzufügen. Zwar ist sie nicht unentbehrlich
für die Beurteilung des 19. Jahrhunderts, die Sache wurde aber gerade in
unseren Tagen viel besprochen und zwar vielfach zum Nachteil des ge-
sunden Menschenverstandes; immer wieder wird sie von der universalisti-
schen, d. h. von der römischen Partei aufgefrischt, und manche sonst gute
Urteilskraft wird durch das geschickt dargestellte, doch gänzlich unhalt-
bare Paradoxon irregeführt. Ich meine die Theorie der duplex potestas,
der zweiköpfigen Gewalt. Den meisten Gebildeten ist sie hauptsächlich
aus Dante’s De Monarchia bekannt, wenngleich sie früher und gleich-
zeitig und auch später von Anderen vorgetragen wurde. Bei aller Ver-
ehrung für den gewaltigen Dichter glaube ich kaum, dass ein politisch
urteilsfähiger und nicht von Parteileidenschaft geblendeter Mensch diese
Schrift aufmerksam lesen kann, ohne sie einfach ungeheuerlich zu finden.
Grossartig wirkt allerdings die Konsequenz und der Mut, womit Dante
dem Papste jede Spur von weltlicher Gewalt und weltlichem Besitze
abspricht; doch indem er die Fülle dieser Gewalt einem Anderen über-
trägt, indem er der Macht dieses Anderen die rein theokratische Quelle
unmittelbar göttlicher Einsetzung vindiziert, hat er nur einen Tyrannen
an die Stelle eines Anderen gesetzt. Von den Kurfürsten meint er,
man dürfe sie nicht »Wähler« nennen, sondern vielmehr »Verkündiger
der göttlichen Vorsehung« (III, 16); das ist ja die ungeschminkte
papale Theorie! Dann aber kommt erst die Ungeheuerlichkeit: neben
diesem unumschränkten, von Gott selbst »ohne irgend einen Ver-
mittler« eingesetzten Alleinherrscher giebt es noch einen, ebenfalls
von Gott selbst eingesetzten, ebenfalls unumschränkten Alleinherrscher,
den Papst! Denn »des Menschen Natur ist eine doppelte und bedarf
darum einer doppelten Leitung«, nämlich »des Papstes, der in Ge-
mässheit der Offenbarung das Menschengeschlecht zum ewigen Leben
führt, und des Kaisers, der im Anschluss an die Lehren der Philo-
sophen die Menschen zur irdischen Glückseligkeit leiten soll«. Schon
philosophisch ist dieser Gedanke eine Monstrosität; denn nach ihm
soll das Streben nach einem diesseitigen, rein irdischen Glück Hand
in Hand mit der Erlangung eines jenseitigen ewigen Glückes gehen;
praktisch bedeutet er die unhaltbarste Wahnvorstellung, die jemals
ein Dichterhirn ausbrütete. Wir dürfen als axiomatische Wahrheit
annehmen, dass Universalismus Absolutismus impliziert, d. h. Unbe-
dingtheit; wie könnten denn zwei unbedingte Herrscher nebeneinander-
stehen? Nicht einen Schritt kann der Eine machen, ohne den Anderen
zu »bedingen«. Wo soll man eine Grenze zwischen der Jurisdiktion

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[655/0134] Staat. des universalistischen Ideals hinzufügen. Zwar ist sie nicht unentbehrlich für die Beurteilung des 19. Jahrhunderts, die Sache wurde aber gerade in unseren Tagen viel besprochen und zwar vielfach zum Nachteil des ge- sunden Menschenverstandes; immer wieder wird sie von der universalisti- schen, d. h. von der römischen Partei aufgefrischt, und manche sonst gute Urteilskraft wird durch das geschickt dargestellte, doch gänzlich unhalt- bare Paradoxon irregeführt. Ich meine die Theorie der duplex potestas, der zweiköpfigen Gewalt. Den meisten Gebildeten ist sie hauptsächlich aus Dante’s De Monarchia bekannt, wenngleich sie früher und gleich- zeitig und auch später von Anderen vorgetragen wurde. Bei aller Ver- ehrung für den gewaltigen Dichter glaube ich kaum, dass ein politisch urteilsfähiger und nicht von Parteileidenschaft geblendeter Mensch diese Schrift aufmerksam lesen kann, ohne sie einfach ungeheuerlich zu finden. Grossartig wirkt allerdings die Konsequenz und der Mut, womit Dante dem Papste jede Spur von weltlicher Gewalt und weltlichem Besitze abspricht; doch indem er die Fülle dieser Gewalt einem Anderen über- trägt, indem er der Macht dieses Anderen die rein theokratische Quelle unmittelbar göttlicher Einsetzung vindiziert, hat er nur einen Tyrannen an die Stelle eines Anderen gesetzt. Von den Kurfürsten meint er, man dürfe sie nicht »Wähler« nennen, sondern vielmehr »Verkündiger der göttlichen Vorsehung« (III, 16); das ist ja die ungeschminkte papale Theorie! Dann aber kommt erst die Ungeheuerlichkeit: neben diesem unumschränkten, von Gott selbst »ohne irgend einen Ver- mittler« eingesetzten Alleinherrscher giebt es noch einen, ebenfalls von Gott selbst eingesetzten, ebenfalls unumschränkten Alleinherrscher, den Papst! Denn »des Menschen Natur ist eine doppelte und bedarf darum einer doppelten Leitung«, nämlich »des Papstes, der in Ge- mässheit der Offenbarung das Menschengeschlecht zum ewigen Leben führt, und des Kaisers, der im Anschluss an die Lehren der Philo- sophen die Menschen zur irdischen Glückseligkeit leiten soll«. Schon philosophisch ist dieser Gedanke eine Monstrosität; denn nach ihm soll das Streben nach einem diesseitigen, rein irdischen Glück Hand in Hand mit der Erlangung eines jenseitigen ewigen Glückes gehen; praktisch bedeutet er die unhaltbarste Wahnvorstellung, die jemals ein Dichterhirn ausbrütete. Wir dürfen als axiomatische Wahrheit annehmen, dass Universalismus Absolutismus impliziert, d. h. Unbe- dingtheit; wie könnten denn zwei unbedingte Herrscher nebeneinander- stehen? Nicht einen Schritt kann der Eine machen, ohne den Anderen zu »bedingen«. Wo soll man eine Grenze zwischen der Jurisdiktion

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 655. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/134>, abgerufen am 18.12.2024.