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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Staat.
höchstens ein unvermeidliches Übel; denn sobald eine scharfe äussere
Grenze gezogen ist, wird sich die Tendenz zur innerlichen Grenzen-
losigkeit kundthun; nie wird die echte Nation sich dem Imperium
unterwerfen.

Das staatliche Ideal der römischen Hierokratie ist die civitas Dei
auf Erden, ein einziger, unteilbarer Gottesstaat; jede Gliederung, welche
äussere Grenzen schafft, bedroht das unbegrenzte Ganze, denn sie
erzeugt Persönlichkeit. Darum gehen die Freiheiten der germanischen
Völkerschaften, die Königswahl, die besonderen Rechte u. s. w. unter
römischem Einfluss verloren; darum organisieren die Predigermönche,
sobald zu Anfang des 13. Jahrhunderts die Nationalitäten deutlich
hervorzutreten beginnen, einen wahren Feldzug gegen den amor soli
natalis,
die Liebe zur heimatlichen Scholle; darum sehen wir die
Kaiser auf die Schwächung der Fürsten bedacht, und die Päpste während
Jahrhunderte unermüdlich thätig, die Bildung der Staaten zu hindern
und -- sobald hier kein Erfolg mehr zu hoffen -- ihre freiheitliche
Entwickelung hintanzuhalten (bei welchem Bestreben namentlich die
Kreuzzüge ihnen lange Zeit zu gute kamen); darum sorgen die Konsti-
tutionen des Jesuitenordens an erster Stelle dafür, dass dessen Mit-
glieder gänzlich "entnationalisiert" werden und einzig der universellen
Kirche angehören;1) darum lesen wir in den allerneuesten, streng

1) Jedes Gespräch über einzelne Nationen ist den Jesuiten aufs Strengste ver-
boten; das Ideal des Ignatius war, sagt Gothein (Ignatius von Loyola, S. 336), "alle
Nationen durcheinander zu werfen"; nur wo die Staaten es zur Bedingung machten,
liess er den Unterricht durch Eingeborene geben, sonst war es sein stehendes Prinzip,
jedes Mitglied aus seinem Vaterlande zu entfernen, wodurch zugleich erreicht wurde,
dass kein Jesuitenschüler durch ein Mitglied seiner eigenen Nation herangebildet
wurde. Das System ist seither nicht geändert. Buss, der ultramontane Verfasser
der Geschichte der Gesellschaft Jesu, rühmt ihr vornehmlich nach: "sie hat keinen
Charakter haftend an dem Genie einer Nation oder in der Eigentümlichkeit eines
einzelnen Landes". Der französische Jesuit Juvency warnt in seiner Lern- und
Lehrmethode
die Ordensmitglieder ganz besonders vor dem "zu vielen Lesen in
Werken der Muttersprache", denn, so fährt er fort: "dabei wird nicht nur viel Zeit ver-
loren, sondern man leidet auch leicht Schiffbruch an der Seele". Schiffbruch an der
Seele durch Vertrautheit mit der Muttersprache! Und der bayrische Jesuit Kropf
stellt im vorigen Jahrhundert als erstes Prinzip für die Schule auf, dass "der Ge-
brauch der Muttersprache niemals gestattet werde". Man durchsuche das ganze
Buch (ein orthodox-römisch-jesuitisches), aus dem ich diese Citate entnehme: Er-
läuterungsschriften zur Studienordnung der Gesellschaft Jesu,
1898, bei Herder (für
Obiges S. 229 und 417), man wird das Wort Vaterland nicht ein einziges Mal
finden! -- (Nachtrag: Während der Drucklegung dieses Kapitels lerne ich die vor-
treffliche Schrift von Georg Mertz, Die Pädagogik der Jesuiten, Heidelberg 1898,
Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 43

Staat.
höchstens ein unvermeidliches Übel; denn sobald eine scharfe äussere
Grenze gezogen ist, wird sich die Tendenz zur innerlichen Grenzen-
losigkeit kundthun; nie wird die echte Nation sich dem Imperium
unterwerfen.

Das staatliche Ideal der römischen Hierokratie ist die civitas Dei
auf Erden, ein einziger, unteilbarer Gottesstaat; jede Gliederung, welche
äussere Grenzen schafft, bedroht das unbegrenzte Ganze, denn sie
erzeugt Persönlichkeit. Darum gehen die Freiheiten der germanischen
Völkerschaften, die Königswahl, die besonderen Rechte u. s. w. unter
römischem Einfluss verloren; darum organisieren die Predigermönche,
sobald zu Anfang des 13. Jahrhunderts die Nationalitäten deutlich
hervorzutreten beginnen, einen wahren Feldzug gegen den amor soli
natalis,
die Liebe zur heimatlichen Scholle; darum sehen wir die
Kaiser auf die Schwächung der Fürsten bedacht, und die Päpste während
Jahrhunderte unermüdlich thätig, die Bildung der Staaten zu hindern
und — sobald hier kein Erfolg mehr zu hoffen — ihre freiheitliche
Entwickelung hintanzuhalten (bei welchem Bestreben namentlich die
Kreuzzüge ihnen lange Zeit zu gute kamen); darum sorgen die Konsti-
tutionen des Jesuitenordens an erster Stelle dafür, dass dessen Mit-
glieder gänzlich »entnationalisiert« werden und einzig der universellen
Kirche angehören;1) darum lesen wir in den allerneuesten, streng

1) Jedes Gespräch über einzelne Nationen ist den Jesuiten aufs Strengste ver-
boten; das Ideal des Ignatius war, sagt Gothein (Ignatius von Loyola, S. 336), »alle
Nationen durcheinander zu werfen«; nur wo die Staaten es zur Bedingung machten,
liess er den Unterricht durch Eingeborene geben, sonst war es sein stehendes Prinzip,
jedes Mitglied aus seinem Vaterlande zu entfernen, wodurch zugleich erreicht wurde,
dass kein Jesuitenschüler durch ein Mitglied seiner eigenen Nation herangebildet
wurde. Das System ist seither nicht geändert. Buss, der ultramontane Verfasser
der Geschichte der Gesellschaft Jesu, rühmt ihr vornehmlich nach: »sie hat keinen
Charakter haftend an dem Genie einer Nation oder in der Eigentümlichkeit eines
einzelnen Landes«. Der französische Jesuit Juvency warnt in seiner Lern- und
Lehrmethode
die Ordensmitglieder ganz besonders vor dem »zu vielen Lesen in
Werken der Muttersprache«, denn, so fährt er fort: »dabei wird nicht nur viel Zeit ver-
loren, sondern man leidet auch leicht Schiffbruch an der Seele«. Schiffbruch an der
Seele durch Vertrautheit mit der Muttersprache! Und der bayrische Jesuit Kropf
stellt im vorigen Jahrhundert als erstes Prinzip für die Schule auf, dass »der Ge-
brauch der Muttersprache niemals gestattet werde«. Man durchsuche das ganze
Buch (ein orthodox-römisch-jesuitisches), aus dem ich diese Citate entnehme: Er-
läuterungsschriften zur Studienordnung der Gesellschaft Jesu,
1898, bei Herder (für
Obiges S. 229 und 417), man wird das Wort Vaterland nicht ein einziges Mal
finden! — (Nachtrag: Während der Drucklegung dieses Kapitels lerne ich die vor-
treffliche Schrift von Georg Mertz, Die Pädagogik der Jesuiten, Heidelberg 1898,
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[665/0144] Staat. höchstens ein unvermeidliches Übel; denn sobald eine scharfe äussere Grenze gezogen ist, wird sich die Tendenz zur innerlichen Grenzen- losigkeit kundthun; nie wird die echte Nation sich dem Imperium unterwerfen. Das staatliche Ideal der römischen Hierokratie ist die civitas Dei auf Erden, ein einziger, unteilbarer Gottesstaat; jede Gliederung, welche äussere Grenzen schafft, bedroht das unbegrenzte Ganze, denn sie erzeugt Persönlichkeit. Darum gehen die Freiheiten der germanischen Völkerschaften, die Königswahl, die besonderen Rechte u. s. w. unter römischem Einfluss verloren; darum organisieren die Predigermönche, sobald zu Anfang des 13. Jahrhunderts die Nationalitäten deutlich hervorzutreten beginnen, einen wahren Feldzug gegen den amor soli natalis, die Liebe zur heimatlichen Scholle; darum sehen wir die Kaiser auf die Schwächung der Fürsten bedacht, und die Päpste während Jahrhunderte unermüdlich thätig, die Bildung der Staaten zu hindern und — sobald hier kein Erfolg mehr zu hoffen — ihre freiheitliche Entwickelung hintanzuhalten (bei welchem Bestreben namentlich die Kreuzzüge ihnen lange Zeit zu gute kamen); darum sorgen die Konsti- tutionen des Jesuitenordens an erster Stelle dafür, dass dessen Mit- glieder gänzlich »entnationalisiert« werden und einzig der universellen Kirche angehören; 1) darum lesen wir in den allerneuesten, streng 1) Jedes Gespräch über einzelne Nationen ist den Jesuiten aufs Strengste ver- boten; das Ideal des Ignatius war, sagt Gothein (Ignatius von Loyola, S. 336), »alle Nationen durcheinander zu werfen«; nur wo die Staaten es zur Bedingung machten, liess er den Unterricht durch Eingeborene geben, sonst war es sein stehendes Prinzip, jedes Mitglied aus seinem Vaterlande zu entfernen, wodurch zugleich erreicht wurde, dass kein Jesuitenschüler durch ein Mitglied seiner eigenen Nation herangebildet wurde. Das System ist seither nicht geändert. Buss, der ultramontane Verfasser der Geschichte der Gesellschaft Jesu, rühmt ihr vornehmlich nach: »sie hat keinen Charakter haftend an dem Genie einer Nation oder in der Eigentümlichkeit eines einzelnen Landes«. Der französische Jesuit Juvency warnt in seiner Lern- und Lehrmethode die Ordensmitglieder ganz besonders vor dem »zu vielen Lesen in Werken der Muttersprache«, denn, so fährt er fort: »dabei wird nicht nur viel Zeit ver- loren, sondern man leidet auch leicht Schiffbruch an der Seele«. Schiffbruch an der Seele durch Vertrautheit mit der Muttersprache! Und der bayrische Jesuit Kropf stellt im vorigen Jahrhundert als erstes Prinzip für die Schule auf, dass »der Ge- brauch der Muttersprache niemals gestattet werde«. Man durchsuche das ganze Buch (ein orthodox-römisch-jesuitisches), aus dem ich diese Citate entnehme: Er- läuterungsschriften zur Studienordnung der Gesellschaft Jesu, 1898, bei Herder (für Obiges S. 229 und 417), man wird das Wort Vaterland nicht ein einziges Mal finden! — (Nachtrag: Während der Drucklegung dieses Kapitels lerne ich die vor- treffliche Schrift von Georg Mertz, Die Pädagogik der Jesuiten, Heidelberg 1898, Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 43

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 665. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/144>, abgerufen am 24.11.2024.