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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.
Stämmen hat die Welt um neue Muster edlen Menschentums bereichert.
Ganz im Gegenteil war das alte Rom eine Erscheinung der extremsten
Konzentration gewesen, wie in der Politik,1) so auch in intellektueller
Beziehung: die Stadtmauern -- die Grenzen des Vaterlandes, die Un-
verletzbarkeit des Rechtes -- die Grenzen des Geistes. Das Hellenentum,
geistig so unendlich reich, reich auch in der Bildung von Dialekten,
sowie von Stämmen mit gesonderten Sitten, steht dem Germanentum
viel näher; auch die arischen Inder zeigen sich in der erstaunlichen
Gabe der stets schaffenden Sprachenerfindung, sowie im scharf aus-
gesprochenen Partikularismus nahe verwandt; diesen beiden Menschen-
arten haben vielleicht nur die historischen und geographischen Be-
dingungen gefehlt, um ähnlich machtvoll einheitlich und zugleich
vielgestaltig wie die Germanen sich zu entwickeln. Doch führt eine
derartige Betrachtung auf das Gebiet der Hypothesen: Thatsache bleibt,
dass die Plasticität des Germanenthums einzig und unvergleichbar in
der Weltgeschichte ist.

Es ist nicht unwichtig zu bemerken -- wenn ich es auch aus
Scheu vor dem Geschichtsphilosophieren nur nebenbei thue --, dass
der charakteristische, unvertilgbare Individualismus des echten
Germanen mit dieser "plastischen" Anlage der Rasse offenbar zusammen-
hängt. Ein neuer Stamm setzt das Entstehen neuer Individuen voraus;
dass neue Stämme stets bereit sind, hervorzuschiessen, beweist, dass
auch stets eigenartige, von anderen sich unterscheidende Individuen vor-
handen sind, ungeduldig den Zaum beissend, der die freie Bethätigung
ihrer Originalität zügelt. Ich möchte die Behauptung aufstellen: jeder
bedeutende Germane ist virtualiter der Anfangspunkt eines neuen
Stammes, eines neuen Dialektes, einer neuen Weltauffassung.2)

Von Tausenden und Millionen derartiger "Individualisten", d. h.
echter Persönlichkeiten wurde die neue Welt aufgebaut.3)

Und so erkennen wir denn den Germanen als den Baumeister
und geben Jakob Grimm Recht, wenn er behauptet, es sei ein "roher

1) Siehe das zweite Kapitel.
2) Vergl. die Ausführungen im vorigen Kapitel, S. 661.
3) Einige konfuse Köpfe des heutigen Tages verwechseln Individualismus
mit "Subjektivität" und knüpfen daran ich weiss nicht was für einen albernen Vorwurf
von Schwäche und Unbeständigkeit, wo doch hier offenbar die "objektive" An-
erkennung und -- bei Männern wie Goethe -- Beurteilung der eigenen Person
vorliegt, woraus Sicherheit, Zielbewusstsein und unbethörbares Freiheitsgefühl sich
ergeben.

Die Entstehung einer neuen Welt.
Stämmen hat die Welt um neue Muster edlen Menschentums bereichert.
Ganz im Gegenteil war das alte Rom eine Erscheinung der extremsten
Konzentration gewesen, wie in der Politik,1) so auch in intellektueller
Beziehung: die Stadtmauern — die Grenzen des Vaterlandes, die Un-
verletzbarkeit des Rechtes — die Grenzen des Geistes. Das Hellenentum,
geistig so unendlich reich, reich auch in der Bildung von Dialekten,
sowie von Stämmen mit gesonderten Sitten, steht dem Germanentum
viel näher; auch die arischen Inder zeigen sich in der erstaunlichen
Gabe der stets schaffenden Sprachenerfindung, sowie im scharf aus-
gesprochenen Partikularismus nahe verwandt; diesen beiden Menschen-
arten haben vielleicht nur die historischen und geographischen Be-
dingungen gefehlt, um ähnlich machtvoll einheitlich und zugleich
vielgestaltig wie die Germanen sich zu entwickeln. Doch führt eine
derartige Betrachtung auf das Gebiet der Hypothesen: Thatsache bleibt,
dass die Plasticität des Germanenthums einzig und unvergleichbar in
der Weltgeschichte ist.

Es ist nicht unwichtig zu bemerken — wenn ich es auch aus
Scheu vor dem Geschichtsphilosophieren nur nebenbei thue —, dass
der charakteristische, unvertilgbare Individualismus des echten
Germanen mit dieser »plastischen« Anlage der Rasse offenbar zusammen-
hängt. Ein neuer Stamm setzt das Entstehen neuer Individuen voraus;
dass neue Stämme stets bereit sind, hervorzuschiessen, beweist, dass
auch stets eigenartige, von anderen sich unterscheidende Individuen vor-
handen sind, ungeduldig den Zaum beissend, der die freie Bethätigung
ihrer Originalität zügelt. Ich möchte die Behauptung aufstellen: jeder
bedeutende Germane ist virtualiter der Anfangspunkt eines neuen
Stammes, eines neuen Dialektes, einer neuen Weltauffassung.2)

Von Tausenden und Millionen derartiger »Individualisten«, d. h.
echter Persönlichkeiten wurde die neue Welt aufgebaut.3)

Und so erkennen wir denn den Germanen als den Baumeister
und geben Jakob Grimm Recht, wenn er behauptet, es sei ein »roher

1) Siehe das zweite Kapitel.
2) Vergl. die Ausführungen im vorigen Kapitel, S. 661.
3) Einige konfuse Köpfe des heutigen Tages verwechseln Individualismus
mit »Subjektivität« und knüpfen daran ich weiss nicht was für einen albernen Vorwurf
von Schwäche und Unbeständigkeit, wo doch hier offenbar die »objektive« An-
erkennung und — bei Männern wie Goethe — Beurteilung der eigenen Person
vorliegt, woraus Sicherheit, Zielbewusstsein und unbethörbares Freiheitsgefühl sich
ergeben.
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[702/0181] Die Entstehung einer neuen Welt. Stämmen hat die Welt um neue Muster edlen Menschentums bereichert. Ganz im Gegenteil war das alte Rom eine Erscheinung der extremsten Konzentration gewesen, wie in der Politik, 1) so auch in intellektueller Beziehung: die Stadtmauern — die Grenzen des Vaterlandes, die Un- verletzbarkeit des Rechtes — die Grenzen des Geistes. Das Hellenentum, geistig so unendlich reich, reich auch in der Bildung von Dialekten, sowie von Stämmen mit gesonderten Sitten, steht dem Germanentum viel näher; auch die arischen Inder zeigen sich in der erstaunlichen Gabe der stets schaffenden Sprachenerfindung, sowie im scharf aus- gesprochenen Partikularismus nahe verwandt; diesen beiden Menschen- arten haben vielleicht nur die historischen und geographischen Be- dingungen gefehlt, um ähnlich machtvoll einheitlich und zugleich vielgestaltig wie die Germanen sich zu entwickeln. Doch führt eine derartige Betrachtung auf das Gebiet der Hypothesen: Thatsache bleibt, dass die Plasticität des Germanenthums einzig und unvergleichbar in der Weltgeschichte ist. Es ist nicht unwichtig zu bemerken — wenn ich es auch aus Scheu vor dem Geschichtsphilosophieren nur nebenbei thue —, dass der charakteristische, unvertilgbare Individualismus des echten Germanen mit dieser »plastischen« Anlage der Rasse offenbar zusammen- hängt. Ein neuer Stamm setzt das Entstehen neuer Individuen voraus; dass neue Stämme stets bereit sind, hervorzuschiessen, beweist, dass auch stets eigenartige, von anderen sich unterscheidende Individuen vor- handen sind, ungeduldig den Zaum beissend, der die freie Bethätigung ihrer Originalität zügelt. Ich möchte die Behauptung aufstellen: jeder bedeutende Germane ist virtualiter der Anfangspunkt eines neuen Stammes, eines neuen Dialektes, einer neuen Weltauffassung. 2) Von Tausenden und Millionen derartiger »Individualisten«, d. h. echter Persönlichkeiten wurde die neue Welt aufgebaut. 3) Und so erkennen wir denn den Germanen als den Baumeister und geben Jakob Grimm Recht, wenn er behauptet, es sei ein »roher 1) Siehe das zweite Kapitel. 2) Vergl. die Ausführungen im vorigen Kapitel, S. 661. 3) Einige konfuse Köpfe des heutigen Tages verwechseln Individualismus mit »Subjektivität« und knüpfen daran ich weiss nicht was für einen albernen Vorwurf von Schwäche und Unbeständigkeit, wo doch hier offenbar die »objektive« An- erkennung und — bei Männern wie Goethe — Beurteilung der eigenen Person vorliegt, woraus Sicherheit, Zielbewusstsein und unbethörbares Freiheitsgefühl sich ergeben.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 702. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/181>, abgerufen am 21.11.2024.