Wahn", zu glauben, irgend etwas Grosses könne "aus dem bodenlosen Meer einer Allgemeinheit" entstehen.1) In sehr verschiedenen Stammes- individualitäten und in den mannigfaltigsten Kreuzungen seiner Stämme sehen wir den Germanen am Werke, umringt -- dort wo die Grenzen des einigermassen reinen Germanentums überschritten sind -- von Völkern und auch im Innern reichlich von Gruppen und Individuen durchsetzt, welche (siehe S. 491) als Halb-, Viertel-, Achtel-, Sechzehntel- germanen zu bezeichnen wären, die aber alle unter dem nie ermüdenden Impuls dieses mittleren, schöpferischen Geistes das Ihrige beitragen zu der Gesamtsumme der geleisteten Arbeit:
Wenn die Könige bau'n, haben die Kärrner zu thun.
Um uns in der Geschichte des Werdens dieser neuen Welt zurecht-Die angebliche "Menschheit" zufinden, dürfen wir nun ihren spezifisch germanischen Charakter nie aus den Augen verlieren. Denn sobald wir von der Menschheit im Allgemeinen sprechen, sobald wir in der Geschichte eine Ent- wickelung, einen Fortschritt, eine Erziehung u. s. w. der "Menschheit" zu erblicken wähnen, verlassen wir den sichern Boden der Thatsachen und schweben in luftigen Abstraktionen. Diese Menschheit, über die schon so viel philosophiert worden ist, leidet nämlich an dem schweren Gebrechen, dass sie gar nicht existiert. Die Natur und die Geschichte bieten uns eine grosse Anzahl verschiedener Menschen, nicht aber eine Menschheit. Selbst die Hypothese, dass alle diese Menschen unter einander physisch verwandt seien, als Sprossen eines einzigen Urstammes, hat kaum so viel Wert wie die Theorie der Himmelssphären des Ptole- mäus; denn diese erklärte ein Vorhandenes, Sichtbares durch Ver- anschaulichung, während jede Spekulation über eine "Abstammung" der Menschen sich an ein Problem heranwagt, welches zunächst nur in der Phantasie des Denkers existiert, nicht durch Erfahrung gegeben ist, und welches folglich vor ein metaphysisches Forum gehört, um auf seine Zulässigkeit geprüft zu werden. Träte aber auch einmal diese Frage nach der Abstammung der Menschen und ihrer Verwandtschaft untereinander aus dem Gebiet der Phrase in das des empirisch Nachweisbaren, so wäre schwerlich damit für die Beurteilung der Geschichte etwas gewonnen; denn jede Erklärung aus Ursachen impliziert einen regressus in infinitum; sie ist wie das Aufrollen einer Landkarte: wir sehen immer Neues und zwar Neues, das zum Alten gehört, auch mag die dadurch gewonnene Erweiterung des Beobachtungs-
1)Geschichte der deutschen Sprache, 2. Aufl., S. III.
Die Germanen als Schöpfer einer neuen Kultur.
Wahn«, zu glauben, irgend etwas Grosses könne »aus dem bodenlosen Meer einer Allgemeinheit« entstehen.1) In sehr verschiedenen Stammes- individualitäten und in den mannigfaltigsten Kreuzungen seiner Stämme sehen wir den Germanen am Werke, umringt — dort wo die Grenzen des einigermassen reinen Germanentums überschritten sind — von Völkern und auch im Innern reichlich von Gruppen und Individuen durchsetzt, welche (siehe S. 491) als Halb-, Viertel-, Achtel-, Sechzehntel- germanen zu bezeichnen wären, die aber alle unter dem nie ermüdenden Impuls dieses mittleren, schöpferischen Geistes das Ihrige beitragen zu der Gesamtsumme der geleisteten Arbeit:
Wenn die Könige bau’n, haben die Kärrner zu thun.
Um uns in der Geschichte des Werdens dieser neuen Welt zurecht-Die angebliche »Menschheit« zufinden, dürfen wir nun ihren spezifisch germanischen Charakter nie aus den Augen verlieren. Denn sobald wir von der Menschheit im Allgemeinen sprechen, sobald wir in der Geschichte eine Ent- wickelung, einen Fortschritt, eine Erziehung u. s. w. der »Menschheit« zu erblicken wähnen, verlassen wir den sichern Boden der Thatsachen und schweben in luftigen Abstraktionen. Diese Menschheit, über die schon so viel philosophiert worden ist, leidet nämlich an dem schweren Gebrechen, dass sie gar nicht existiert. Die Natur und die Geschichte bieten uns eine grosse Anzahl verschiedener Menschen, nicht aber eine Menschheit. Selbst die Hypothese, dass alle diese Menschen unter einander physisch verwandt seien, als Sprossen eines einzigen Urstammes, hat kaum so viel Wert wie die Theorie der Himmelssphären des Ptole- mäus; denn diese erklärte ein Vorhandenes, Sichtbares durch Ver- anschaulichung, während jede Spekulation über eine »Abstammung« der Menschen sich an ein Problem heranwagt, welches zunächst nur in der Phantasie des Denkers existiert, nicht durch Erfahrung gegeben ist, und welches folglich vor ein metaphysisches Forum gehört, um auf seine Zulässigkeit geprüft zu werden. Träte aber auch einmal diese Frage nach der Abstammung der Menschen und ihrer Verwandtschaft untereinander aus dem Gebiet der Phrase in das des empirisch Nachweisbaren, so wäre schwerlich damit für die Beurteilung der Geschichte etwas gewonnen; denn jede Erklärung aus Ursachen impliziert einen regressus in infinitum; sie ist wie das Aufrollen einer Landkarte: wir sehen immer Neues und zwar Neues, das zum Alten gehört, auch mag die dadurch gewonnene Erweiterung des Beobachtungs-
1)Geschichte der deutschen Sprache, 2. Aufl., S. III.
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Die Germanen als Schöpfer einer neuen Kultur.
Wahn«, zu glauben, irgend etwas Grosses könne »aus dem bodenlosen
Meer einer Allgemeinheit« entstehen. 1) In sehr verschiedenen Stammes-
individualitäten und in den mannigfaltigsten Kreuzungen seiner Stämme
sehen wir den Germanen am Werke, umringt — dort wo die Grenzen
des einigermassen reinen Germanentums überschritten sind — von
Völkern und auch im Innern reichlich von Gruppen und Individuen
durchsetzt, welche (siehe S. 491) als Halb-, Viertel-, Achtel-, Sechzehntel-
germanen zu bezeichnen wären, die aber alle unter dem nie ermüdenden
Impuls dieses mittleren, schöpferischen Geistes das Ihrige beitragen zu
der Gesamtsumme der geleisteten Arbeit:
Wenn die Könige bau’n, haben die Kärrner zu thun.
Um uns in der Geschichte des Werdens dieser neuen Welt zurecht-
zufinden, dürfen wir nun ihren spezifisch germanischen Charakter nie
aus den Augen verlieren. Denn sobald wir von der Menschheit
im Allgemeinen sprechen, sobald wir in der Geschichte eine Ent-
wickelung, einen Fortschritt, eine Erziehung u. s. w. der »Menschheit«
zu erblicken wähnen, verlassen wir den sichern Boden der Thatsachen
und schweben in luftigen Abstraktionen. Diese Menschheit, über die
schon so viel philosophiert worden ist, leidet nämlich an dem schweren
Gebrechen, dass sie gar nicht existiert. Die Natur und die Geschichte
bieten uns eine grosse Anzahl verschiedener Menschen, nicht aber eine
Menschheit. Selbst die Hypothese, dass alle diese Menschen unter
einander physisch verwandt seien, als Sprossen eines einzigen Urstammes,
hat kaum so viel Wert wie die Theorie der Himmelssphären des Ptole-
mäus; denn diese erklärte ein Vorhandenes, Sichtbares durch Ver-
anschaulichung, während jede Spekulation über eine »Abstammung«
der Menschen sich an ein Problem heranwagt, welches zunächst
nur in der Phantasie des Denkers existiert, nicht durch Erfahrung
gegeben ist, und welches folglich vor ein metaphysisches Forum
gehört, um auf seine Zulässigkeit geprüft zu werden. Träte aber auch
einmal diese Frage nach der Abstammung der Menschen und ihrer
Verwandtschaft untereinander aus dem Gebiet der Phrase in das des
empirisch Nachweisbaren, so wäre schwerlich damit für die Beurteilung
der Geschichte etwas gewonnen; denn jede Erklärung aus Ursachen
impliziert einen regressus in infinitum; sie ist wie das Aufrollen einer
Landkarte: wir sehen immer Neues und zwar Neues, das zum Alten
gehört, auch mag die dadurch gewonnene Erweiterung des Beobachtungs-
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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 703. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/182>, abgerufen am 16.02.2025.
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