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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.
gebietes zur Bereicherung unseres Geistes beitragen, doch bleibt jede
einzelne Thatsache nach wie vor, was sie war, und es ist sehr zweifelhaft,
ob das Urteil durch die Kenntnis eines umfangreicheren Zusammen-
hanges wesentlich verschärft wird -- das Umgekehrte ist ebenso leicht
möglich. "Die Erfahrung ist grenzenlos, weil immer noch ein Neues
entdeckt werden kann", wie Goethe in seiner Kritik des Bacon von
Verulam und der angeblich induktiven Methode bemerkt; dagegen ist
Wesen und Zweck des Urteilens die Begrenzung. Schärfe, nicht Um-
fang, bedingt die Vorzüglichkeit des Urteils; darum wird es allezeit
weniger darauf ankommen, wie viel der Blick umfasst, als darauf, wie
genau das Gesehene erblickt wird; daher auch die innere Berechtigung
der neueren Methoden der Geschichtsforschung, welche von den
erklärenden, philosophierenden Gesamtdarstellungen zu der peinlich
genauen Feststellung einzelner Thatsachen übergegangen sind. Freilich,
sobald die Geschichtswissenschaft sich in "grenzenlose Empirie" verirrt,
bringt sie weiter nichts zu Stande als ein "Hin- und Herschaufeln von
Wahrnehmungen" (wie Justus Liebig in gerechtem Grimme über
gewisse induktive Forschungsmethoden schilt);1) doch ist es andrer-
seits sicher, dass die genaue Kenntnis eines einzigen Falles für das
Urteil mehr nützt als der Überblick über tausend in Nebel gehüllte.
Das alte Wort non multa, sed multum bewährt sich eben überall und
lehrt uns auch -- was man ihm auf den ersten Blick nicht ansieht --
die richtige Methode des Generalisierens: diese besteht darin, dass wir
nie den Boden der Thatsachen verlassen und dass wir uns nicht, wie
die Kinder, bei angeblichen "Erklärungen" aus Ursachen beruhigen
(am allerwenigsten bei abstrakten Dogmen von Entwickelung, Erziehung
u. s. w.) sondern bestrebt bleiben, das Phänomen selbst in seiner
autonomen Würde mit immer grösserer Deutlichkeit zu erblicken. Will
man weite geschichtliche Komplexe vereinfachen und doch wahrheits-
gemäss zusammenfassen, so nehme man zunächst die unbestreitbaren
konkreten Thatsachen, ohne eine Theorie daran zu knüpfen; das
Warum wird schon seinen Platz fordern, doch darf es immer erst in
zweiter Reihe kommen, nicht in erster; das Konkrete hat den Vortritt.
Bewaffnet mit einem abstrakten Begriff der Menschheit und daran
geknüpften Postulaten den Erscheinungen der Geschichte entgegen-
zutreten und sie zu beurteilen, ist ein wahnvolles Beginnen; die wirklich
vorhandenen, individuell begrenzten, national unterschiedenen Menschen

1) Reden und Abhandlungen, 1874, S. 248.

Die Entstehung einer neuen Welt.
gebietes zur Bereicherung unseres Geistes beitragen, doch bleibt jede
einzelne Thatsache nach wie vor, was sie war, und es ist sehr zweifelhaft,
ob das Urteil durch die Kenntnis eines umfangreicheren Zusammen-
hanges wesentlich verschärft wird — das Umgekehrte ist ebenso leicht
möglich. »Die Erfahrung ist grenzenlos, weil immer noch ein Neues
entdeckt werden kann«, wie Goethe in seiner Kritik des Bacon von
Verulam und der angeblich induktiven Methode bemerkt; dagegen ist
Wesen und Zweck des Urteilens die Begrenzung. Schärfe, nicht Um-
fang, bedingt die Vorzüglichkeit des Urteils; darum wird es allezeit
weniger darauf ankommen, wie viel der Blick umfasst, als darauf, wie
genau das Gesehene erblickt wird; daher auch die innere Berechtigung
der neueren Methoden der Geschichtsforschung, welche von den
erklärenden, philosophierenden Gesamtdarstellungen zu der peinlich
genauen Feststellung einzelner Thatsachen übergegangen sind. Freilich,
sobald die Geschichtswissenschaft sich in »grenzenlose Empirie« verirrt,
bringt sie weiter nichts zu Stande als ein »Hin- und Herschaufeln von
Wahrnehmungen« (wie Justus Liebig in gerechtem Grimme über
gewisse induktive Forschungsmethoden schilt);1) doch ist es andrer-
seits sicher, dass die genaue Kenntnis eines einzigen Falles für das
Urteil mehr nützt als der Überblick über tausend in Nebel gehüllte.
Das alte Wort non multa, sed multum bewährt sich eben überall und
lehrt uns auch — was man ihm auf den ersten Blick nicht ansieht —
die richtige Methode des Generalisierens: diese besteht darin, dass wir
nie den Boden der Thatsachen verlassen und dass wir uns nicht, wie
die Kinder, bei angeblichen »Erklärungen« aus Ursachen beruhigen
(am allerwenigsten bei abstrakten Dogmen von Entwickelung, Erziehung
u. s. w.) sondern bestrebt bleiben, das Phänomen selbst in seiner
autonomen Würde mit immer grösserer Deutlichkeit zu erblicken. Will
man weite geschichtliche Komplexe vereinfachen und doch wahrheits-
gemäss zusammenfassen, so nehme man zunächst die unbestreitbaren
konkreten Thatsachen, ohne eine Theorie daran zu knüpfen; das
Warum wird schon seinen Platz fordern, doch darf es immer erst in
zweiter Reihe kommen, nicht in erster; das Konkrete hat den Vortritt.
Bewaffnet mit einem abstrakten Begriff der Menschheit und daran
geknüpften Postulaten den Erscheinungen der Geschichte entgegen-
zutreten und sie zu beurteilen, ist ein wahnvolles Beginnen; die wirklich
vorhandenen, individuell begrenzten, national unterschiedenen Menschen

1) Reden und Abhandlungen, 1874, S. 248.
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[704/0183] Die Entstehung einer neuen Welt. gebietes zur Bereicherung unseres Geistes beitragen, doch bleibt jede einzelne Thatsache nach wie vor, was sie war, und es ist sehr zweifelhaft, ob das Urteil durch die Kenntnis eines umfangreicheren Zusammen- hanges wesentlich verschärft wird — das Umgekehrte ist ebenso leicht möglich. »Die Erfahrung ist grenzenlos, weil immer noch ein Neues entdeckt werden kann«, wie Goethe in seiner Kritik des Bacon von Verulam und der angeblich induktiven Methode bemerkt; dagegen ist Wesen und Zweck des Urteilens die Begrenzung. Schärfe, nicht Um- fang, bedingt die Vorzüglichkeit des Urteils; darum wird es allezeit weniger darauf ankommen, wie viel der Blick umfasst, als darauf, wie genau das Gesehene erblickt wird; daher auch die innere Berechtigung der neueren Methoden der Geschichtsforschung, welche von den erklärenden, philosophierenden Gesamtdarstellungen zu der peinlich genauen Feststellung einzelner Thatsachen übergegangen sind. Freilich, sobald die Geschichtswissenschaft sich in »grenzenlose Empirie« verirrt, bringt sie weiter nichts zu Stande als ein »Hin- und Herschaufeln von Wahrnehmungen« (wie Justus Liebig in gerechtem Grimme über gewisse induktive Forschungsmethoden schilt); 1) doch ist es andrer- seits sicher, dass die genaue Kenntnis eines einzigen Falles für das Urteil mehr nützt als der Überblick über tausend in Nebel gehüllte. Das alte Wort non multa, sed multum bewährt sich eben überall und lehrt uns auch — was man ihm auf den ersten Blick nicht ansieht — die richtige Methode des Generalisierens: diese besteht darin, dass wir nie den Boden der Thatsachen verlassen und dass wir uns nicht, wie die Kinder, bei angeblichen »Erklärungen« aus Ursachen beruhigen (am allerwenigsten bei abstrakten Dogmen von Entwickelung, Erziehung u. s. w.) sondern bestrebt bleiben, das Phänomen selbst in seiner autonomen Würde mit immer grösserer Deutlichkeit zu erblicken. Will man weite geschichtliche Komplexe vereinfachen und doch wahrheits- gemäss zusammenfassen, so nehme man zunächst die unbestreitbaren konkreten Thatsachen, ohne eine Theorie daran zu knüpfen; das Warum wird schon seinen Platz fordern, doch darf es immer erst in zweiter Reihe kommen, nicht in erster; das Konkrete hat den Vortritt. Bewaffnet mit einem abstrakten Begriff der Menschheit und daran geknüpften Postulaten den Erscheinungen der Geschichte entgegen- zutreten und sie zu beurteilen, ist ein wahnvolles Beginnen; die wirklich vorhandenen, individuell begrenzten, national unterschiedenen Menschen 1) Reden und Abhandlungen, 1874, S. 248.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 704. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/183>, abgerufen am 21.11.2024.