Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.Die Germanen als Schöpfer einer neuen Kultur. Geschichte aufgedeckt wurde: ehe wir das Gebilde seines Geisteswirklich begreifen konnten, mussten wir den Römer selber aus dem Grabe hervorrufen. So ging es auf allen Gebieten. Nicht allein in der Philosophie sollten wir "Mägde" (ancillae), nämlich die des Aristoteles sein (siehe S. 683), sondern in unser ganzes Denken und Schaffen wurde das Gesetz der Sklaverei eingeführt. Einzig auf wirtschaftlichem und industriellem Gebiete schritt man rüstig voran, denn hier hemmte kein klassisches Dogma; selbst die Naturwissenschaft und die Welt- entdeckung hatten einen schweren Kampf zu bestehen, alle Geistes- wissenschaften, sowie Poesie und Kunst einen viel schwereren, einen Kampf, der noch heute nicht bis zum völligen Sieg und gründlichen Abschütteln durchgefochten ist. Gewiss ist es kein Zufall, wenn der bei weitem gewaltigste Dichter aus der Zeit der angeblichen Wieder- geburt, Shakespeare, und der gewaltigste Bildner, Michelangelo, beide keine alte Sprache verstanden; man denke doch, in welcher machtvoller Unabhängigkeit ein Dante vor uns stünde, wenn er seine Hölle nicht bei Virgil erborgt und seine Staatsideale nicht aus konstantinopolitanischem Afterrecht und der Civitas Dei des Augustinus zusammengeschweisst hätte! Und warum wurde diese Berührung mit den vergangenen Kulturen, welche ungeteilten Segen hätte bringen sollen, vielfach zum Fluch? Das geschah lediglich, weil wir die Individualität einer jeden Kultur- erscheinung nicht begriffen -- heute noch, den Göttern sei es geklagt! nicht begreifen. So priesen z. B. die toskanischen Schöngeister die griechische Tragödie als ewigen "paragone" des Dramas, ohne ein- sehen zu können, dass bei uns nicht allein die Lebensbedingungen weit von den attischen abweichen, sondern die Begabung, die ge- samte Persönlichkeit mit ihren Licht- und Schattenseiten eine völlig andere ist; so förderten denn diese vorgeblichen Erneuerer hellenischer Kultur allerhand Monstrositäten zu Tage und vernichteten das italienische Drama in der Knospe. Hierdurch bewiesen die Schöngeister, dass sie nicht allein vom Wesen des Germanentums, sondern ebenfalls vom Wesen des Hellenentums keine Ahnung besassen. Was wir von dem Griechentum nämlich hätten lernen sollen, war die Bedeutung einer organisch gewachsenen Kunst für das Leben und die Bedeutung der ungeschmälerten freien Persönlichkeit für die Kunst; wir ent- nahmen ihm das Gegenteil: fertige Schablonen und die Zwingherr- schaft einer erlogenen Ästhetik. Denn nur das bewusste, freie Indi- viduum erhebt sich zum Verständnis der Unvergleichlichkeit anderer Individualitäten. Der Stümper glaubt, Jeder könne Alles; er begreift Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 46
Die Germanen als Schöpfer einer neuen Kultur. Geschichte aufgedeckt wurde: ehe wir das Gebilde seines Geisteswirklich begreifen konnten, mussten wir den Römer selber aus dem Grabe hervorrufen. So ging es auf allen Gebieten. Nicht allein in der Philosophie sollten wir »Mägde« (ancillae), nämlich die des Aristoteles sein (siehe S. 683), sondern in unser ganzes Denken und Schaffen wurde das Gesetz der Sklaverei eingeführt. Einzig auf wirtschaftlichem und industriellem Gebiete schritt man rüstig voran, denn hier hemmte kein klassisches Dogma; selbst die Naturwissenschaft und die Welt- entdeckung hatten einen schweren Kampf zu bestehen, alle Geistes- wissenschaften, sowie Poesie und Kunst einen viel schwereren, einen Kampf, der noch heute nicht bis zum völligen Sieg und gründlichen Abschütteln durchgefochten ist. Gewiss ist es kein Zufall, wenn der bei weitem gewaltigste Dichter aus der Zeit der angeblichen Wieder- geburt, Shakespeare, und der gewaltigste Bildner, Michelangelo, beide keine alte Sprache verstanden; man denke doch, in welcher machtvoller Unabhängigkeit ein Dante vor uns stünde, wenn er seine Hölle nicht bei Virgil erborgt und seine Staatsideale nicht aus konstantinopolitanischem Afterrecht und der Civitas Dei des Augustinus zusammengeschweisst hätte! Und warum wurde diese Berührung mit den vergangenen Kulturen, welche ungeteilten Segen hätte bringen sollen, vielfach zum Fluch? Das geschah lediglich, weil wir die Individualität einer jeden Kultur- erscheinung nicht begriffen — heute noch, den Göttern sei es geklagt! nicht begreifen. So priesen z. B. die toskanischen Schöngeister die griechische Tragödie als ewigen »paragone« des Dramas, ohne ein- sehen zu können, dass bei uns nicht allein die Lebensbedingungen weit von den attischen abweichen, sondern die Begabung, die ge- samte Persönlichkeit mit ihren Licht- und Schattenseiten eine völlig andere ist; so förderten denn diese vorgeblichen Erneuerer hellenischer Kultur allerhand Monstrositäten zu Tage und vernichteten das italienische Drama in der Knospe. Hierdurch bewiesen die Schöngeister, dass sie nicht allein vom Wesen des Germanentums, sondern ebenfalls vom Wesen des Hellenentums keine Ahnung besassen. Was wir von dem Griechentum nämlich hätten lernen sollen, war die Bedeutung einer organisch gewachsenen Kunst für das Leben und die Bedeutung der ungeschmälerten freien Persönlichkeit für die Kunst; wir ent- nahmen ihm das Gegenteil: fertige Schablonen und die Zwingherr- schaft einer erlogenen Ästhetik. Denn nur das bewusste, freie Indi- viduum erhebt sich zum Verständnis der Unvergleichlichkeit anderer Individualitäten. Der Stümper glaubt, Jeder könne Alles; er begreift Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 46
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Die Germanen als Schöpfer einer neuen Kultur.
Geschichte aufgedeckt wurde: ehe wir das Gebilde seines Geistes
wirklich begreifen konnten, mussten wir den Römer selber aus dem
Grabe hervorrufen. So ging es auf allen Gebieten. Nicht allein in
der Philosophie sollten wir »Mägde« (ancillae), nämlich die des Aristoteles
sein (siehe S. 683), sondern in unser ganzes Denken und Schaffen
wurde das Gesetz der Sklaverei eingeführt. Einzig auf wirtschaftlichem
und industriellem Gebiete schritt man rüstig voran, denn hier hemmte
kein klassisches Dogma; selbst die Naturwissenschaft und die Welt-
entdeckung hatten einen schweren Kampf zu bestehen, alle Geistes-
wissenschaften, sowie Poesie und Kunst einen viel schwereren, einen
Kampf, der noch heute nicht bis zum völligen Sieg und gründlichen
Abschütteln durchgefochten ist. Gewiss ist es kein Zufall, wenn der
bei weitem gewaltigste Dichter aus der Zeit der angeblichen Wieder-
geburt, Shakespeare, und der gewaltigste Bildner, Michelangelo, beide
keine alte Sprache verstanden; man denke doch, in welcher machtvoller
Unabhängigkeit ein Dante vor uns stünde, wenn er seine Hölle nicht bei
Virgil erborgt und seine Staatsideale nicht aus konstantinopolitanischem
Afterrecht und der Civitas Dei des Augustinus zusammengeschweisst hätte!
Und warum wurde diese Berührung mit den vergangenen Kulturen,
welche ungeteilten Segen hätte bringen sollen, vielfach zum Fluch?
Das geschah lediglich, weil wir die Individualität einer jeden Kultur-
erscheinung nicht begriffen — heute noch, den Göttern sei es geklagt!
nicht begreifen. So priesen z. B. die toskanischen Schöngeister die
griechische Tragödie als ewigen »paragone« des Dramas, ohne ein-
sehen zu können, dass bei uns nicht allein die Lebensbedingungen
weit von den attischen abweichen, sondern die Begabung, die ge-
samte Persönlichkeit mit ihren Licht- und Schattenseiten eine völlig
andere ist; so förderten denn diese vorgeblichen Erneuerer hellenischer
Kultur allerhand Monstrositäten zu Tage und vernichteten das italienische
Drama in der Knospe. Hierdurch bewiesen die Schöngeister, dass sie
nicht allein vom Wesen des Germanentums, sondern ebenfalls vom
Wesen des Hellenentums keine Ahnung besassen. Was wir von dem
Griechentum nämlich hätten lernen sollen, war die Bedeutung einer
organisch gewachsenen Kunst für das Leben und die Bedeutung
der ungeschmälerten freien Persönlichkeit für die Kunst; wir ent-
nahmen ihm das Gegenteil: fertige Schablonen und die Zwingherr-
schaft einer erlogenen Ästhetik. Denn nur das bewusste, freie Indi-
viduum erhebt sich zum Verständnis der Unvergleichlichkeit anderer
Individualitäten. Der Stümper glaubt, Jeder könne Alles; er begreift
Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 46
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