Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.Die Entstehung einer neuen Welt. nicht, dass Nachahmung dümmste Unverschämtheit ist. Aus dieserelend stümperhaften Gesinnung und Anschauung war der Gedanke an eine Anknüpfung an Griechenland und Rom, an eine Fortsetzung ihres Werkes entsprungen, worin sich -- das merke man wohl -- eine fast lächerliche Unterschätzung der Leistungen jener grossen Völker ausspricht, zugleich mit einem völligen Verkennen unserer germanischen Kraft und Eigentümlichkeit. und Entartung. Und noch eins. Unschwer hat soeben Jeder einsehen können, 1) Siehe S. 10 und 32. Wie immer hat Immanuel Kant den Nagel auf
den Kopf getroffen, indem er die angeblich fortschreitende Menschheit mit jenem Kranken vergleicht, der triumphierend ausrufen musste: "Ich sterbe vor lauter Besserung!" (Streit der Fakultäten, II), an anderem Orte aber ergänzend schreibt: "Dass die Welt im Ganzen immer zum Besseren fortschreitet, dies anzunehmen berechtigt den Menschen keine Theorie, aber wohl die rein praktische Vernunft, welche nach einer solchen Hypothese zu handeln dogmatisch gebietet" (Über die Fortschritte der Metaphysik, zweite Handschrift, Th. II). Also nicht eine äussere Thatsache, sondern, wie man sieht, eine innere Orientierung der Seele findet in der Vorstellung des Fortschrittes berechtigten Ausdruck. Hätte Kant die Notwendig- keit des Verfalles ebenfalls betont, anstatt "das Geschrei von der unaufhaltsam zunehmenden Verunartung" als belangloses Gerede aufzufassen (Vom Verhältnis der Theorie zur Praxis im Völkerrecht), so wäre nichts unklar geblieben und aus der Antinomie des Handelns nach der Hypothese des Fortschrittes und des Glaubens Die Entstehung einer neuen Welt. nicht, dass Nachahmung dümmste Unverschämtheit ist. Aus dieserelend stümperhaften Gesinnung und Anschauung war der Gedanke an eine Anknüpfung an Griechenland und Rom, an eine Fortsetzung ihres Werkes entsprungen, worin sich — das merke man wohl — eine fast lächerliche Unterschätzung der Leistungen jener grossen Völker ausspricht, zugleich mit einem völligen Verkennen unserer germanischen Kraft und Eigentümlichkeit. und Entartung. Und noch eins. Unschwer hat soeben Jeder einsehen können, 1) Siehe S. 10 und 32. Wie immer hat Immanuel Kant den Nagel auf
den Kopf getroffen, indem er die angeblich fortschreitende Menschheit mit jenem Kranken vergleicht, der triumphierend ausrufen musste: »Ich sterbe vor lauter Besserung!« (Streit der Fakultäten, II), an anderem Orte aber ergänzend schreibt: »Dass die Welt im Ganzen immer zum Besseren fortschreitet, dies anzunehmen berechtigt den Menschen keine Theorie, aber wohl die rein praktische Vernunft, welche nach einer solchen Hypothese zu handeln dogmatisch gebietet« (Über die Fortschritte der Metaphysik, zweite Handschrift, Th. II). Also nicht eine äussere Thatsache, sondern, wie man sieht, eine innere Orientierung der Seele findet in der Vorstellung des Fortschrittes berechtigten Ausdruck. Hätte Kant die Notwendig- keit des Verfalles ebenfalls betont, anstatt »das Geschrei von der unaufhaltsam zunehmenden Verunartung« als belangloses Gerede aufzufassen (Vom Verhältnis der Theorie zur Praxis im Völkerrecht), so wäre nichts unklar geblieben und aus der Antinomie des Handelns nach der Hypothese des Fortschrittes und des Glaubens <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0193" n="714"/><fw place="top" type="header">Die Entstehung einer neuen Welt.</fw><lb/> nicht, dass Nachahmung dümmste Unverschämtheit ist. Aus dieser<lb/> elend stümperhaften Gesinnung und Anschauung war der Gedanke<lb/> an eine Anknüpfung an Griechenland und Rom, an eine Fortsetzung<lb/> ihres Werkes entsprungen, worin sich — das merke man wohl —<lb/> eine fast lächerliche Unterschätzung der Leistungen jener grossen Völker<lb/> ausspricht, zugleich mit einem völligen Verkennen unserer germanischen<lb/> Kraft und Eigentümlichkeit.</p><lb/> <note place="left">Fortschritt<lb/> und<lb/> Entartung.</note> <p>Und noch eins. Unschwer hat soeben Jeder einsehen können,<lb/> inwiefern es jene blasse Abstraktion einer allgemeinen, physiognomie-<lb/> und charakterlosen, beliebig zu knetenden »Menschheit« ist, welche zur<lb/> Unterschätzung der Bedeutung des Individuellen im Einzelnen wie in den<lb/> Völkern führt; diese Konfusion liegt nun einer weiteren, höchst verderb-<lb/> lichen zu Grunde, deren Aufdeckung mehr Aufmerksamkeit und Scharf-<lb/> sinn erfordert. Aus jenem ersten Urteilsfehler ergeben sich nämlich die<lb/> beiden sich gegenseitig ergänzenden Begriffe eines <hi rendition="#g">Fortschrittes</hi> der<lb/> Menschheit und einer <hi rendition="#g">Entartung</hi> der Menschheit, welche alle beide auf<lb/> dem gesunden Boden der konkreten historischen Thatsachen nicht zu<lb/> rechtfertigen sind. Moralisch mag gewiss die Vorstellung des Fort-<lb/> schrittes unentbehrlich sein, sie ist die Übertragung der Göttergabe der<lb/> Hoffnung aufs Allgemeine; andererseits kann die Metaphysik der Religion<lb/> das Symbol der Entartung nicht entbehren (siehe S. 560 fg.): doch<lb/> handelt es sich in beiden Fällen um innere Gemütszustände (im letzten<lb/> Grunde um transscendente Ahnungen), die das Individuum auf seine<lb/> Umgebung hinausprojizirt; auf die thatsächliche Geschichte als handle<lb/> es sich um objektive Wirklichkeiten angewendet, führen sie zu falschen<lb/> Urteilen und zur Verkennung der evidentesten Thatsachen.<note xml:id="seg2pn_13_1" next="#seg2pn_13_2" place="foot" n="1)">Siehe S. 10 und 32. Wie immer hat Immanuel Kant den Nagel auf<lb/> den Kopf getroffen, indem er die angeblich fortschreitende Menschheit mit jenem<lb/> Kranken vergleicht, der triumphierend ausrufen musste: »Ich sterbe vor lauter<lb/> Besserung!« <hi rendition="#i">(Streit der Fakultäten, II)</hi>, an anderem Orte aber ergänzend schreibt:<lb/> »Dass die Welt im Ganzen immer zum Besseren fortschreitet, dies anzunehmen<lb/> berechtigt den Menschen keine Theorie, aber wohl die rein praktische Vernunft,<lb/> welche nach einer solchen Hypothese zu <hi rendition="#g">handeln</hi> dogmatisch gebietet« <hi rendition="#i">(Über die<lb/> Fortschritte der Metaphysik</hi>, zweite Handschrift, Th. II). Also nicht eine äussere<lb/> Thatsache, sondern, wie man sieht, eine innere Orientierung der Seele findet in der<lb/> Vorstellung des Fortschrittes berechtigten Ausdruck. Hätte Kant die Notwendig-<lb/> keit des Verfalles ebenfalls betont, anstatt »das Geschrei von der unaufhaltsam<lb/> zunehmenden Verunartung« als belangloses Gerede aufzufassen <hi rendition="#i">(Vom Verhältnis der<lb/> Theorie zur Praxis im Völkerrecht)</hi>, so wäre nichts unklar geblieben und aus der<lb/> Antinomie des <hi rendition="#g">Handelns</hi> nach der Hypothese des Fortschrittes und des <hi rendition="#g">Glaubens</hi></note> Denn<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [714/0193]
Die Entstehung einer neuen Welt.
nicht, dass Nachahmung dümmste Unverschämtheit ist. Aus dieser
elend stümperhaften Gesinnung und Anschauung war der Gedanke
an eine Anknüpfung an Griechenland und Rom, an eine Fortsetzung
ihres Werkes entsprungen, worin sich — das merke man wohl —
eine fast lächerliche Unterschätzung der Leistungen jener grossen Völker
ausspricht, zugleich mit einem völligen Verkennen unserer germanischen
Kraft und Eigentümlichkeit.
Und noch eins. Unschwer hat soeben Jeder einsehen können,
inwiefern es jene blasse Abstraktion einer allgemeinen, physiognomie-
und charakterlosen, beliebig zu knetenden »Menschheit« ist, welche zur
Unterschätzung der Bedeutung des Individuellen im Einzelnen wie in den
Völkern führt; diese Konfusion liegt nun einer weiteren, höchst verderb-
lichen zu Grunde, deren Aufdeckung mehr Aufmerksamkeit und Scharf-
sinn erfordert. Aus jenem ersten Urteilsfehler ergeben sich nämlich die
beiden sich gegenseitig ergänzenden Begriffe eines Fortschrittes der
Menschheit und einer Entartung der Menschheit, welche alle beide auf
dem gesunden Boden der konkreten historischen Thatsachen nicht zu
rechtfertigen sind. Moralisch mag gewiss die Vorstellung des Fort-
schrittes unentbehrlich sein, sie ist die Übertragung der Göttergabe der
Hoffnung aufs Allgemeine; andererseits kann die Metaphysik der Religion
das Symbol der Entartung nicht entbehren (siehe S. 560 fg.): doch
handelt es sich in beiden Fällen um innere Gemütszustände (im letzten
Grunde um transscendente Ahnungen), die das Individuum auf seine
Umgebung hinausprojizirt; auf die thatsächliche Geschichte als handle
es sich um objektive Wirklichkeiten angewendet, führen sie zu falschen
Urteilen und zur Verkennung der evidentesten Thatsachen. 1) Denn
1) Siehe S. 10 und 32. Wie immer hat Immanuel Kant den Nagel auf
den Kopf getroffen, indem er die angeblich fortschreitende Menschheit mit jenem
Kranken vergleicht, der triumphierend ausrufen musste: »Ich sterbe vor lauter
Besserung!« (Streit der Fakultäten, II), an anderem Orte aber ergänzend schreibt:
»Dass die Welt im Ganzen immer zum Besseren fortschreitet, dies anzunehmen
berechtigt den Menschen keine Theorie, aber wohl die rein praktische Vernunft,
welche nach einer solchen Hypothese zu handeln dogmatisch gebietet« (Über die
Fortschritte der Metaphysik, zweite Handschrift, Th. II). Also nicht eine äussere
Thatsache, sondern, wie man sieht, eine innere Orientierung der Seele findet in der
Vorstellung des Fortschrittes berechtigten Ausdruck. Hätte Kant die Notwendig-
keit des Verfalles ebenfalls betont, anstatt »das Geschrei von der unaufhaltsam
zunehmenden Verunartung« als belangloses Gerede aufzufassen (Vom Verhältnis der
Theorie zur Praxis im Völkerrecht), so wäre nichts unklar geblieben und aus der
Antinomie des Handelns nach der Hypothese des Fortschrittes und des Glaubens
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |