Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.Die Entstehung einer neuen Welt. scheiden, dann zu verbinden, müssen wir also durch die Einsichtergänzen, dass nur wer ein Ganzes überschaut, im Stande ist, die Unterscheidungen innerhalb des Ganzen durchzuführen. Auf diese Weise begründete der unsterbliche Bichat die moderne Gewebelehre: ein für uns hier besonders lehrreiches Beispiel. Bis auf ihn war die Anatomie des Menschenkörpers lediglich eine Beschreibung der ein- zelnen, durch ihre Verrichtungen voneinander unterschiedenen Körper- teile; er wies als Erster auf die Identität der Gewebe, aus denen die einzelnen, noch so verschiedenen Organe aufgebaut sind und ermög- lichte hierdurch eine rationelle Anatomie. Wie man bis auf ihn die einzelnen Organe des Körpers als die zu unterscheidenden Ein- heiten betrachtet und darum zu keiner Klarheit hatte durchdringen können, ebenso plagen wir uns mit den einzelnen Organen des Germanentums, d. h. mit seinen Nationen ab und übersehen dabei, dass hier ein Einheitliches zu Grunde liegt, und dass wir, um die Anatomie und Physiologie des Gesamtkörpers zu verstehen, zuerst diese Einheit als solche erkennen, sodann aber: "die verschiedenen Gewebe isolieren und jedes Gewebe, gleichviel in welchen Organen es vorkommt, untersuchen müssen, um erst zuletzt jedes einzelne Organ in seiner Eigentümlichkeit zu studieren."1) Damit wir die Gegenwart und die Vergangenheit des Germanentums recht anschaulich begriffen, brauchten wir nun einen Bichat, der den Gesamtstoff gliederte und ihn uns richtig -- d. h. naturgemäss -- gegliedert vor Augen führte. Und da er zur Stunde nicht gegenwärtig ist, wollen wir uns, so gut es geht, selber helfen, und zwar nicht etwa, indem wir uns der so viel missbrauchten falschen Analogien zwischen dem tierischen Körper und dem sozialen Körper bedienen, sondern indem wir von Männern wie Bichat die allgemeine Methode lernen: zuerst das Ganze, sodann seine elementaren Bestandteile ins Auge zu fassen, die Zwischen- dinge aber einstweilen ausser Acht zu lassen. Die verschiedenen Erscheinungen unseres Lebens lassen sich, 1) Anatomie Generale, § 6 und § 7 der vorausgeschickten Considerations.
Bichat's Ausführungen habe ich in obigem Satze frei zusammengezogen. Die Entstehung einer neuen Welt. scheiden, dann zu verbinden, müssen wir also durch die Einsichtergänzen, dass nur wer ein Ganzes überschaut, im Stande ist, die Unterscheidungen innerhalb des Ganzen durchzuführen. Auf diese Weise begründete der unsterbliche Bichat die moderne Gewebelehre: ein für uns hier besonders lehrreiches Beispiel. Bis auf ihn war die Anatomie des Menschenkörpers lediglich eine Beschreibung der ein- zelnen, durch ihre Verrichtungen voneinander unterschiedenen Körper- teile; er wies als Erster auf die Identität der Gewebe, aus denen die einzelnen, noch so verschiedenen Organe aufgebaut sind und ermög- lichte hierdurch eine rationelle Anatomie. Wie man bis auf ihn die einzelnen Organe des Körpers als die zu unterscheidenden Ein- heiten betrachtet und darum zu keiner Klarheit hatte durchdringen können, ebenso plagen wir uns mit den einzelnen Organen des Germanentums, d. h. mit seinen Nationen ab und übersehen dabei, dass hier ein Einheitliches zu Grunde liegt, und dass wir, um die Anatomie und Physiologie des Gesamtkörpers zu verstehen, zuerst diese Einheit als solche erkennen, sodann aber: »die verschiedenen Gewebe isolieren und jedes Gewebe, gleichviel in welchen Organen es vorkommt, untersuchen müssen, um erst zuletzt jedes einzelne Organ in seiner Eigentümlichkeit zu studieren.«1) Damit wir die Gegenwart und die Vergangenheit des Germanentums recht anschaulich begriffen, brauchten wir nun einen Bichat, der den Gesamtstoff gliederte und ihn uns richtig — d. h. naturgemäss — gegliedert vor Augen führte. Und da er zur Stunde nicht gegenwärtig ist, wollen wir uns, so gut es geht, selber helfen, und zwar nicht etwa, indem wir uns der so viel missbrauchten falschen Analogien zwischen dem tierischen Körper und dem sozialen Körper bedienen, sondern indem wir von Männern wie Bichat die allgemeine Methode lernen: zuerst das Ganze, sodann seine elementaren Bestandteile ins Auge zu fassen, die Zwischen- dinge aber einstweilen ausser Acht zu lassen. Die verschiedenen Erscheinungen unseres Lebens lassen sich, 1) Anatomie Générale, § 6 und § 7 der vorausgeschickten Considérations.
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Die Entstehung einer neuen Welt.
scheiden, dann zu verbinden, müssen wir also durch die Einsicht
ergänzen, dass nur wer ein Ganzes überschaut, im Stande ist, die
Unterscheidungen innerhalb des Ganzen durchzuführen. Auf diese
Weise begründete der unsterbliche Bichat die moderne Gewebelehre:
ein für uns hier besonders lehrreiches Beispiel. Bis auf ihn war die
Anatomie des Menschenkörpers lediglich eine Beschreibung der ein-
zelnen, durch ihre Verrichtungen voneinander unterschiedenen Körper-
teile; er wies als Erster auf die Identität der Gewebe, aus denen die
einzelnen, noch so verschiedenen Organe aufgebaut sind und ermög-
lichte hierdurch eine rationelle Anatomie. Wie man bis auf ihn
die einzelnen Organe des Körpers als die zu unterscheidenden Ein-
heiten betrachtet und darum zu keiner Klarheit hatte durchdringen
können, ebenso plagen wir uns mit den einzelnen Organen des
Germanentums, d. h. mit seinen Nationen ab und übersehen dabei,
dass hier ein Einheitliches zu Grunde liegt, und dass wir, um die
Anatomie und Physiologie des Gesamtkörpers zu verstehen, zuerst
diese Einheit als solche erkennen, sodann aber: »die verschiedenen
Gewebe isolieren und jedes Gewebe, gleichviel in welchen Organen
es vorkommt, untersuchen müssen, um erst zuletzt jedes einzelne
Organ in seiner Eigentümlichkeit zu studieren.« 1) Damit wir die
Gegenwart und die Vergangenheit des Germanentums recht anschaulich
begriffen, brauchten wir nun einen Bichat, der den Gesamtstoff gliederte
und ihn uns richtig — d. h. naturgemäss — gegliedert vor Augen
führte. Und da er zur Stunde nicht gegenwärtig ist, wollen wir uns,
so gut es geht, selber helfen, und zwar nicht etwa, indem wir uns
der so viel missbrauchten falschen Analogien zwischen dem tierischen
Körper und dem sozialen Körper bedienen, sondern indem wir von
Männern wie Bichat die allgemeine Methode lernen: zuerst das Ganze,
sodann seine elementaren Bestandteile ins Auge zu fassen, die Zwischen-
dinge aber einstweilen ausser Acht zu lassen.
Die verschiedenen Erscheinungen unseres Lebens lassen sich,
meine ich, in drei grosse Rubriken zusammenfassen: Wissen, Civili-
sation, Kultur. Das sind schon gewissermassen »Elemente«, doch
so reichgestaltete, dass wir besser thun werden, sie gleich weiter auf-
zulösen, wobei folgende Tafel als Versuch einer einfachsten Gliederung
betrachtet werden mag:
1) Anatomie Générale, § 6 und § 7 der vorausgeschickten Considérations.
Bichat’s Ausführungen habe ich in obigem Satze frei zusammengezogen.
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