6. Weltanschauung (einschliesslich Religion und Sittenlehre)
7. Kunst
Kultur
Bichat's anatomische Grundtafel blieb der Wissenschaft als end- gültiger Besitz, doch wurde sie nach und nach sehr vereinfacht und dadurch gewann der organisatorische Gedanke bedeutend an Leucht- kraft; bei meiner Tafel dürfte das umgekehrte Verfahren zur Anwendung kommen müssen; mein Wunsch, zu vereinfachen, hat mich vielleicht nicht Elemente genug anerkennen lassen. Bichat legte eben mit seiner Einteilung die Grundlage zu einem umfassenden Werke und zu einer ganzen Wissenschaft; ich dagegen teile in einem Schlusskapitel in aller Bescheidenheit einen Gedanken mit, der sich mir nützlich erwiesen hat und vielleicht auch Anderen dienen kann; es geschieht ohne wissen- schaftliche Prätention.
Ehe ich nun von dieser Einteilung praktischen Gebrauch mache, muss ich sie kurz erläutern, um Missverständnissen und Einwürfen vorzubeugen, und zwar kann ich erst dann den Wert der Gliederung in Wissen, Civilisation und Kultur zeigen, wenn wir über die Be- deutung der einzelnen Elemente einig sind.
Unter Entdeckung verstehe ich die Bereicherung des Wissens durch konkrete Thatsachen: zunächst ist hier an die Entdeckung immer grösserer Striche unseres Planeten zu denken, also an die materiell- räumliche Ausdehnung unseres Wissens- und Schaffensmaterials. Jedes andere Fernerrücken der Grenzpfähle unseres Wissens ist aber eben- falls Entdeckung: das Erforschen des Kosmos, das Sichtbarmachen des unendlich Kleinen, das Aufgraben des Verschütteten, das Auffinden bisher unbekannter Sprachen, u. s. w. -- Wissenschaft ist etwas wesentlich Anderes: sie ist die methodische Verarbeitung des Ent- deckten zu einem bewussten, systematischen "Wissen". Ohne Ent- decktes, d. h. ohne anschauliches Material -- durch Erfahrung gegeben, durch Beobachtung genau bestimmt -- wäre sie lediglich ein methodo- logisches Gespenst; als Mathematik bliebe dann ihr Mantel, als Logik ihr Skelett in unseren Händen; doch ist andererseits gerade Wissen-
47*
Geschichtlicher Überblick.
1. Entdeckung
2. Wissenschaft
Wissen
3. Industrie
4. Wirtschaft
Civilisation
5. Politik und Kirche
6. Weltanschauung (einschliesslich Religion und Sittenlehre)
7. Kunst
Kultur
Bichat’s anatomische Grundtafel blieb der Wissenschaft als end- gültiger Besitz, doch wurde sie nach und nach sehr vereinfacht und dadurch gewann der organisatorische Gedanke bedeutend an Leucht- kraft; bei meiner Tafel dürfte das umgekehrte Verfahren zur Anwendung kommen müssen; mein Wunsch, zu vereinfachen, hat mich vielleicht nicht Elemente genug anerkennen lassen. Bichat legte eben mit seiner Einteilung die Grundlage zu einem umfassenden Werke und zu einer ganzen Wissenschaft; ich dagegen teile in einem Schlusskapitel in aller Bescheidenheit einen Gedanken mit, der sich mir nützlich erwiesen hat und vielleicht auch Anderen dienen kann; es geschieht ohne wissen- schaftliche Prätention.
Ehe ich nun von dieser Einteilung praktischen Gebrauch mache, muss ich sie kurz erläutern, um Missverständnissen und Einwürfen vorzubeugen, und zwar kann ich erst dann den Wert der Gliederung in Wissen, Civilisation und Kultur zeigen, wenn wir über die Be- deutung der einzelnen Elemente einig sind.
Unter Entdeckung verstehe ich die Bereicherung des Wissens durch konkrete Thatsachen: zunächst ist hier an die Entdeckung immer grösserer Striche unseres Planeten zu denken, also an die materiell- räumliche Ausdehnung unseres Wissens- und Schaffensmaterials. Jedes andere Fernerrücken der Grenzpfähle unseres Wissens ist aber eben- falls Entdeckung: das Erforschen des Kosmos, das Sichtbarmachen des unendlich Kleinen, das Aufgraben des Verschütteten, das Auffinden bisher unbekannter Sprachen, u. s. w. — Wissenschaft ist etwas wesentlich Anderes: sie ist die methodische Verarbeitung des Ent- deckten zu einem bewussten, systematischen »Wissen«. Ohne Ent- decktes, d. h. ohne anschauliches Material — durch Erfahrung gegeben, durch Beobachtung genau bestimmt — wäre sie lediglich ein methodo- logisches Gespenst; als Mathematik bliebe dann ihr Mantel, als Logik ihr Skelett in unseren Händen; doch ist andererseits gerade Wissen-
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Geschichtlicher Überblick.
1. Entdeckung
2. Wissenschaft
Wissen
3. Industrie
4. Wirtschaft
Civilisation
5. Politik und Kirche
6. Weltanschauung (einschliesslich Religion
und Sittenlehre)
7. Kunst
Kultur
Bichat’s anatomische Grundtafel blieb der Wissenschaft als end-
gültiger Besitz, doch wurde sie nach und nach sehr vereinfacht und
dadurch gewann der organisatorische Gedanke bedeutend an Leucht-
kraft; bei meiner Tafel dürfte das umgekehrte Verfahren zur Anwendung
kommen müssen; mein Wunsch, zu vereinfachen, hat mich vielleicht
nicht Elemente genug anerkennen lassen. Bichat legte eben mit seiner
Einteilung die Grundlage zu einem umfassenden Werke und zu einer
ganzen Wissenschaft; ich dagegen teile in einem Schlusskapitel in aller
Bescheidenheit einen Gedanken mit, der sich mir nützlich erwiesen hat
und vielleicht auch Anderen dienen kann; es geschieht ohne wissen-
schaftliche Prätention.
Ehe ich nun von dieser Einteilung praktischen Gebrauch mache,
muss ich sie kurz erläutern, um Missverständnissen und Einwürfen
vorzubeugen, und zwar kann ich erst dann den Wert der Gliederung
in Wissen, Civilisation und Kultur zeigen, wenn wir über die Be-
deutung der einzelnen Elemente einig sind.
Unter Entdeckung verstehe ich die Bereicherung des Wissens
durch konkrete Thatsachen: zunächst ist hier an die Entdeckung immer
grösserer Striche unseres Planeten zu denken, also an die materiell-
räumliche Ausdehnung unseres Wissens- und Schaffensmaterials. Jedes
andere Fernerrücken der Grenzpfähle unseres Wissens ist aber eben-
falls Entdeckung: das Erforschen des Kosmos, das Sichtbarmachen des
unendlich Kleinen, das Aufgraben des Verschütteten, das Auffinden
bisher unbekannter Sprachen, u. s. w. — Wissenschaft ist etwas
wesentlich Anderes: sie ist die methodische Verarbeitung des Ent-
deckten zu einem bewussten, systematischen »Wissen«. Ohne Ent-
decktes, d. h. ohne anschauliches Material — durch Erfahrung gegeben,
durch Beobachtung genau bestimmt — wäre sie lediglich ein methodo-
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ihr Skelett in unseren Händen; doch ist andererseits gerade Wissen-
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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 731. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/210>, abgerufen am 21.11.2024.
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