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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.
schaft die grösste Förderin der Entdeckung. Als Galvani's Laboratorium-
diener die Schenkelmuskeln eines präparierten Frosches zusammenzucken
sah, hatte er eine Thatsache entdeckt; Galvani selber hatte sie gar
nicht bemerkt;1) als jedoch dieser Meister von der Sache erfuhr, da
durchzuckte es sein Hirn nicht bloss wie der dunkle Strom die Frosch-
keule oder wie das gaffende Staunen den Diener, sondern als grell
leuchtender Geistesblitz: ihm, dem wissenschaftlich Gebildeten, that
sich die Ahnung weitläufiger Zusammenhänge mit allerhand anderen
bekannten und noch unbekannten Thatsachen auf und trieb ihn zu
endlosen Experimenten und wechselnd angepassten Theorien. Der
Unterschied zwischen Entdeckung und Wissenschaft leuchtet durch
dieses Beispiel ein. Schon Aristoteles hatte gesagt: "erst Thatsachen
sammeln, dann sie denkend verbinden"; das erste ist Entdeckung, das
zweite Wissenschaft. Justus Liebig -- den ich in diesem Kapitel be-
sonders gern vorführe, da er ein Vertreter echtester Wissenschaft ist --
schreibt: "Alle (wissenschaftliche) Forschung ist deduktiv oder apriorisch.
Eine empirische Naturforschung in dem gewöhnlichen Sinne existiert
gar nicht. Ein Experiment, dem nicht eine Theorie, d. h. eine Idee
vorhergeht, verhält sich zur Naturforschung wie das Rasseln mit einer
Kinderklapper zur Musik".2) Dies gilt von jeder Wissenschaft, denn
alle Wissenschaft ist Naturwissenschaft. Und wenn auch häufig die
Grenze schwer zu ziehen ist, schwer nämlich für Denjenigen, der
nicht in der Werkstätte bei der Arbeit gegenwärtig war, so ist sie
dennoch durchaus real und führt zunächst zu einer sehr wichtigen
Einsicht: dass nämlich neun Zehntel der sogenannten Männer der
Wissenschaft unseres Jahrhunderts lediglich Laboratoriumdiener waren,
die entweder ohne jegliche vorhergegangene Idee Thatsachen zufällig
entdeckten, d. h. Material zusammentrugen, oder den von den wenigen
hervorragenden Männern -- einem Cuvier, einem Jakob Grimm, einem
Bopp, einem Robert Bunsen, einem Robert Mayer, einem Clerk Max-
well, einem Darwin, einem Pasteur, einem Savigny, einem Eduard
Reuss, u. s. w. -- hinausgegebenen Ideen sich sklavisch anschlossen
und nur dank dieser Beleuchtung Nützliches schufen. Diese Grenze
echter Wissenschaft nach unten zu darf nie aus den Augen verloren
werden. Ebensowenig die nach oben zu. Sobald nämlich der Geist

1) Dies berichtet Galvani mit nachahmungswerter Aufrichtigkeit in seiner
De viribus electricitatis in motu musculari commentatio.
2) Francis Bacon von Verulam und die Geschichte der Naturwissenschaften, 1863.

Die Entstehung einer neuen Welt.
schaft die grösste Förderin der Entdeckung. Als Galvani’s Laboratorium-
diener die Schenkelmuskeln eines präparierten Frosches zusammenzucken
sah, hatte er eine Thatsache entdeckt; Galvani selber hatte sie gar
nicht bemerkt;1) als jedoch dieser Meister von der Sache erfuhr, da
durchzuckte es sein Hirn nicht bloss wie der dunkle Strom die Frosch-
keule oder wie das gaffende Staunen den Diener, sondern als grell
leuchtender Geistesblitz: ihm, dem wissenschaftlich Gebildeten, that
sich die Ahnung weitläufiger Zusammenhänge mit allerhand anderen
bekannten und noch unbekannten Thatsachen auf und trieb ihn zu
endlosen Experimenten und wechselnd angepassten Theorien. Der
Unterschied zwischen Entdeckung und Wissenschaft leuchtet durch
dieses Beispiel ein. Schon Aristoteles hatte gesagt: »erst Thatsachen
sammeln, dann sie denkend verbinden«; das erste ist Entdeckung, das
zweite Wissenschaft. Justus Liebig — den ich in diesem Kapitel be-
sonders gern vorführe, da er ein Vertreter echtester Wissenschaft ist —
schreibt: »Alle (wissenschaftliche) Forschung ist deduktiv oder apriorisch.
Eine empirische Naturforschung in dem gewöhnlichen Sinne existiert
gar nicht. Ein Experiment, dem nicht eine Theorie, d. h. eine Idee
vorhergeht, verhält sich zur Naturforschung wie das Rasseln mit einer
Kinderklapper zur Musik«.2) Dies gilt von jeder Wissenschaft, denn
alle Wissenschaft ist Naturwissenschaft. Und wenn auch häufig die
Grenze schwer zu ziehen ist, schwer nämlich für Denjenigen, der
nicht in der Werkstätte bei der Arbeit gegenwärtig war, so ist sie
dennoch durchaus real und führt zunächst zu einer sehr wichtigen
Einsicht: dass nämlich neun Zehntel der sogenannten Männer der
Wissenschaft unseres Jahrhunderts lediglich Laboratoriumdiener waren,
die entweder ohne jegliche vorhergegangene Idee Thatsachen zufällig
entdeckten, d. h. Material zusammentrugen, oder den von den wenigen
hervorragenden Männern — einem Cuvier, einem Jakob Grimm, einem
Bopp, einem Robert Bunsen, einem Robert Mayer, einem Clerk Max-
well, einem Darwin, einem Pasteur, einem Savigny, einem Eduard
Reuss, u. s. w. — hinausgegebenen Ideen sich sklavisch anschlossen
und nur dank dieser Beleuchtung Nützliches schufen. Diese Grenze
echter Wissenschaft nach unten zu darf nie aus den Augen verloren
werden. Ebensowenig die nach oben zu. Sobald nämlich der Geist

1) Dies berichtet Galvani mit nachahmungswerter Aufrichtigkeit in seiner
De viribus electricitatis in motu musculari commentatio.
2) Francis Bacon von Verulam und die Geschichte der Naturwissenschaften, 1863.
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[732/0211] Die Entstehung einer neuen Welt. schaft die grösste Förderin der Entdeckung. Als Galvani’s Laboratorium- diener die Schenkelmuskeln eines präparierten Frosches zusammenzucken sah, hatte er eine Thatsache entdeckt; Galvani selber hatte sie gar nicht bemerkt; 1) als jedoch dieser Meister von der Sache erfuhr, da durchzuckte es sein Hirn nicht bloss wie der dunkle Strom die Frosch- keule oder wie das gaffende Staunen den Diener, sondern als grell leuchtender Geistesblitz: ihm, dem wissenschaftlich Gebildeten, that sich die Ahnung weitläufiger Zusammenhänge mit allerhand anderen bekannten und noch unbekannten Thatsachen auf und trieb ihn zu endlosen Experimenten und wechselnd angepassten Theorien. Der Unterschied zwischen Entdeckung und Wissenschaft leuchtet durch dieses Beispiel ein. Schon Aristoteles hatte gesagt: »erst Thatsachen sammeln, dann sie denkend verbinden«; das erste ist Entdeckung, das zweite Wissenschaft. Justus Liebig — den ich in diesem Kapitel be- sonders gern vorführe, da er ein Vertreter echtester Wissenschaft ist — schreibt: »Alle (wissenschaftliche) Forschung ist deduktiv oder apriorisch. Eine empirische Naturforschung in dem gewöhnlichen Sinne existiert gar nicht. Ein Experiment, dem nicht eine Theorie, d. h. eine Idee vorhergeht, verhält sich zur Naturforschung wie das Rasseln mit einer Kinderklapper zur Musik«. 2) Dies gilt von jeder Wissenschaft, denn alle Wissenschaft ist Naturwissenschaft. Und wenn auch häufig die Grenze schwer zu ziehen ist, schwer nämlich für Denjenigen, der nicht in der Werkstätte bei der Arbeit gegenwärtig war, so ist sie dennoch durchaus real und führt zunächst zu einer sehr wichtigen Einsicht: dass nämlich neun Zehntel der sogenannten Männer der Wissenschaft unseres Jahrhunderts lediglich Laboratoriumdiener waren, die entweder ohne jegliche vorhergegangene Idee Thatsachen zufällig entdeckten, d. h. Material zusammentrugen, oder den von den wenigen hervorragenden Männern — einem Cuvier, einem Jakob Grimm, einem Bopp, einem Robert Bunsen, einem Robert Mayer, einem Clerk Max- well, einem Darwin, einem Pasteur, einem Savigny, einem Eduard Reuss, u. s. w. — hinausgegebenen Ideen sich sklavisch anschlossen und nur dank dieser Beleuchtung Nützliches schufen. Diese Grenze echter Wissenschaft nach unten zu darf nie aus den Augen verloren werden. Ebensowenig die nach oben zu. Sobald nämlich der Geist 1) Dies berichtet Galvani mit nachahmungswerter Aufrichtigkeit in seiner De viribus electricitatis in motu musculari commentatio. 2) Francis Bacon von Verulam und die Geschichte der Naturwissenschaften, 1863.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 732. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/211>, abgerufen am 21.11.2024.