Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.Geschichtlicher Überblick. nicht allein, wie bei Galvani, beobachtete Thatsachen durch eine "voran-gegangene Idee" unter einander verknüpft und dergestalt zu einem menschlich durchdachten Wissen organisiert, sondern über das durch die Entdeckung gelieferte Material sich zu freier Spekulation erhebt, handelt es sich nicht mehr um Wissenschaft, sondern um Philosophie. Ein gewaltiger Sprung geschieht dadurch, wie von einem Gestirn auf ein anderes; es handelt sich um zwei Welten, so verschieden von einander wie der Ton von der Luftwelle, wie der Ausdruck von dem Auge; in ihnen tritt die unüberwindliche, unüberbrückbare Duplicität unseres Wesens an den Tag. Im Interesse der Wissenschaft (welche ohne Philosophie zu keinem Kulturelement heranwachsen kann), im Interesse der Philosophie (die ohne Wissenschaft einem Monarchen ohne Volk gleicht), wäre es wünschenswert, bei jedem Gebildeten das klare Bewusstsein dieser Grenze zu finden. Doch gerade in dieser Beziehung wurde im Gegenteil und wird noch unendlich viel gesündigt; unser Jahrhundert war eine Hexenküche durcheinandergeworfener Be- griffe, widernatürlicher Paarungsversuche zwischen Wissenschaft und Philosophie, und die Attentäter konnten wie das Hexenvolk von sich melden: Und wenn es uns glückt, Die Gedanken sind denn auch danach, denn es glückt nie und Geschichtlicher Überblick. nicht allein, wie bei Galvani, beobachtete Thatsachen durch eine »voran-gegangene Idee« unter einander verknüpft und dergestalt zu einem menschlich durchdachten Wissen organisiert, sondern über das durch die Entdeckung gelieferte Material sich zu freier Spekulation erhebt, handelt es sich nicht mehr um Wissenschaft, sondern um Philosophie. Ein gewaltiger Sprung geschieht dadurch, wie von einem Gestirn auf ein anderes; es handelt sich um zwei Welten, so verschieden von einander wie der Ton von der Luftwelle, wie der Ausdruck von dem Auge; in ihnen tritt die unüberwindliche, unüberbrückbare Duplicität unseres Wesens an den Tag. Im Interesse der Wissenschaft (welche ohne Philosophie zu keinem Kulturelement heranwachsen kann), im Interesse der Philosophie (die ohne Wissenschaft einem Monarchen ohne Volk gleicht), wäre es wünschenswert, bei jedem Gebildeten das klare Bewusstsein dieser Grenze zu finden. Doch gerade in dieser Beziehung wurde im Gegenteil und wird noch unendlich viel gesündigt; unser Jahrhundert war eine Hexenküche durcheinandergeworfener Be- griffe, widernatürlicher Paarungsversuche zwischen Wissenschaft und Philosophie, und die Attentäter konnten wie das Hexenvolk von sich melden: Und wenn es uns glückt, Die Gedanken sind denn auch danach, denn es glückt nie und <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0212" n="733"/><fw place="top" type="header">Geschichtlicher Überblick.</fw><lb/> nicht allein, wie bei Galvani, beobachtete Thatsachen durch eine »voran-<lb/> gegangene Idee« unter einander verknüpft und dergestalt zu einem<lb/> menschlich durchdachten Wissen organisiert, sondern über das durch<lb/> die Entdeckung gelieferte Material sich zu freier Spekulation erhebt,<lb/> handelt es sich nicht mehr um Wissenschaft, sondern um Philosophie.<lb/> Ein gewaltiger Sprung geschieht dadurch, wie von einem Gestirn auf<lb/> ein anderes; es handelt sich um zwei Welten, so verschieden von<lb/> einander wie der Ton von der Luftwelle, wie der Ausdruck von dem<lb/> Auge; in ihnen tritt die unüberwindliche, unüberbrückbare Duplicität<lb/> unseres Wesens an den Tag. Im Interesse der Wissenschaft (welche<lb/> ohne Philosophie zu keinem Kulturelement heranwachsen kann), im<lb/> Interesse der Philosophie (die ohne Wissenschaft einem Monarchen<lb/> ohne Volk gleicht), wäre es wünschenswert, bei jedem Gebildeten das<lb/> klare Bewusstsein dieser Grenze zu finden. Doch gerade in dieser<lb/> Beziehung wurde im Gegenteil und wird noch unendlich viel gesündigt;<lb/> unser Jahrhundert war eine Hexenküche durcheinandergeworfener Be-<lb/> griffe, widernatürlicher Paarungsversuche zwischen Wissenschaft und<lb/> Philosophie, und die Attentäter konnten wie das Hexenvolk von sich<lb/> melden:</p><lb/> <cit> <quote>Und wenn es uns glückt,<lb/> Und wenn es sich schickt,<lb/> So sind es Gedanken.</quote> </cit><lb/> <p>Die Gedanken sind denn auch danach, denn es glückt nie und<lb/> es schickt sich nie. — Die <hi rendition="#g">Industrie</hi> wäre ich für meine Person<lb/> geneigt, der Gruppe des Wissens zuzurechnen, denn von allen mensch-<lb/> lichen Lebensbethätigungen steht gerade sie in unmittelbarster Ab-<lb/> hängigkeit vom Wissen; genau so wie die Wissenschaft, fusst sie<lb/> überall auf Entdeckung, und jede industrielle »Erfindung« bedeutet<lb/> eine Kombination bekannter Thatsachen durch Vermittelung einer<lb/> »vorangegangenen Idee« (wie Liebig sagte). Ich fürchtete aber über-<lb/> flüssigen Widerspruch zu erregen, da ja andererseits die Industrie die<lb/> allerengste Bundesgenossin der wirtschaftlichen Entwickelung und somit<lb/> eine bestimmende Grundlage aller Civilisation ist. Keine Gewalt der<lb/> Welt vermag es, eine industrielle Errungenschaft zurückzuhalten. Die<lb/> Industrie gleicht fast einer blinden Naturkraft: widerstehen kann man<lb/> ihr nicht, und, tritt sie auch einem gezähmten Tiere gleich, gebändigt<lb/> und dienend in die Erscheinung, es weiss doch Keiner, wohin sie<lb/> führt. Die Entwickelung der Sprengstofftechnik, der Schiessgewehre,<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [733/0212]
Geschichtlicher Überblick.
nicht allein, wie bei Galvani, beobachtete Thatsachen durch eine »voran-
gegangene Idee« unter einander verknüpft und dergestalt zu einem
menschlich durchdachten Wissen organisiert, sondern über das durch
die Entdeckung gelieferte Material sich zu freier Spekulation erhebt,
handelt es sich nicht mehr um Wissenschaft, sondern um Philosophie.
Ein gewaltiger Sprung geschieht dadurch, wie von einem Gestirn auf
ein anderes; es handelt sich um zwei Welten, so verschieden von
einander wie der Ton von der Luftwelle, wie der Ausdruck von dem
Auge; in ihnen tritt die unüberwindliche, unüberbrückbare Duplicität
unseres Wesens an den Tag. Im Interesse der Wissenschaft (welche
ohne Philosophie zu keinem Kulturelement heranwachsen kann), im
Interesse der Philosophie (die ohne Wissenschaft einem Monarchen
ohne Volk gleicht), wäre es wünschenswert, bei jedem Gebildeten das
klare Bewusstsein dieser Grenze zu finden. Doch gerade in dieser
Beziehung wurde im Gegenteil und wird noch unendlich viel gesündigt;
unser Jahrhundert war eine Hexenküche durcheinandergeworfener Be-
griffe, widernatürlicher Paarungsversuche zwischen Wissenschaft und
Philosophie, und die Attentäter konnten wie das Hexenvolk von sich
melden:
Und wenn es uns glückt,
Und wenn es sich schickt,
So sind es Gedanken.
Die Gedanken sind denn auch danach, denn es glückt nie und
es schickt sich nie. — Die Industrie wäre ich für meine Person
geneigt, der Gruppe des Wissens zuzurechnen, denn von allen mensch-
lichen Lebensbethätigungen steht gerade sie in unmittelbarster Ab-
hängigkeit vom Wissen; genau so wie die Wissenschaft, fusst sie
überall auf Entdeckung, und jede industrielle »Erfindung« bedeutet
eine Kombination bekannter Thatsachen durch Vermittelung einer
»vorangegangenen Idee« (wie Liebig sagte). Ich fürchtete aber über-
flüssigen Widerspruch zu erregen, da ja andererseits die Industrie die
allerengste Bundesgenossin der wirtschaftlichen Entwickelung und somit
eine bestimmende Grundlage aller Civilisation ist. Keine Gewalt der
Welt vermag es, eine industrielle Errungenschaft zurückzuhalten. Die
Industrie gleicht fast einer blinden Naturkraft: widerstehen kann man
ihr nicht, und, tritt sie auch einem gezähmten Tiere gleich, gebändigt
und dienend in die Erscheinung, es weiss doch Keiner, wohin sie
führt. Die Entwickelung der Sprengstofftechnik, der Schiessgewehre,
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |