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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Geschichtlicher Überblick.
dablen, doch nie zu einer in letzter Instanz entscheidenden Macht.1)
Und ist auch nichts auf der Welt schwerer, als über allgemeine wirt-
schaftliche Fragen zu sprechen, ohne Unsinn zu reden -- so geheim-
nisvoll weben hier die Nornen (Erwerben, Bewahren, Verwerten) das
Schicksal der Nationen und ihrer einzelnen Mitglieder -- so vermögen
wir nichtsdestoweniger leicht die Bedeutung der Wirtschaft als vor-
wiegenden und mittleren Faktor aller Civilisation einzusehen. --
Politik bezeichnet nicht allein das Verhältnis einer Nation zu den
anderen, auch nicht allein den Widerstreit im Innern des Staates
zwischen den Einfluss suchenden Kreisen und Personen, sondern die
gesamte sichtbare und so zu sagen künstliche Organisation des gesell-
schaftlichen Körpers. Im zweiten Kapitel dieses Buches (S. 163) habe
ich das Recht definiert als: Willkür an Stelle von Instinkt in den Be-
ziehungen zwischen den Menschen; der Staat ist nun der Inbegriff
der gesamten zugleich unentbehrlichen und doch willkürlichen Ab-
machungen, und die Politik ist der Staat am Werke. Der Staat ist ge-
wissermassen der Wagen, die Politik der Kutscher; ein Kutscher aber,
der selber Wagner ist und an seinem Gefährt unaufhörlich herumbessert;
manchmal wirft er auch um und muss sich einen neuen Wagen bauen,
doch besitzt er dazu kein Material ausser dem alten, und so gleicht
denn das neue Fuhrwerk gewöhnlich bis auf kleine Äusserlichkeiten
dem früheren -- es wäre denn, das wirtschaftliche Leben hätte wirklich
inzwischen noch nicht Dagewesenes herbeigeschafft. Die Kirche nenne
ich auf meiner Tafel zugleich mit Politik: es ging nicht anders; ist
der Staat der Inbegriff aller willkürlichen Abmachungen, so ist das,
was wir gewöhnlich und offiziell unter dem Wort "Kirche" verstehen,
das vollendetste Beispiel raffinirter Willkür. Denn hier ist nicht allein
von den Beziehungen der Menschen untereinander die Rede, sondern
der organisierende Trieb der Gesellschaft greift in das Innere des
Einzelnen hinein und verbietet ihm auch hier -- so weit es gehen
will -- der Notwendigkeit seines Wesens zu gehorchen, indem ihm
ein willkürlich festgesetztes, bis ins Einzelne bestimmtes Glaubensbe-
kenntnis, sowie ein bestimmtes Zeremoniell für die Erhebung des
Gemütes zur Gottheit, als Gesetz aufgezwungen wird. Die Notwendig-

1) Das Wort Reaktion verstehe ich hier natürlich wissenschaftlich, als eine
Bewegung, die auf einen Reiz hin erfolgt, nicht im Sinne unserer modernen
Parteibenennungen; doch ist der Unterschied nicht gar so gross und gleichen
unsere sogenannten "Reaktionäre" mehr als sie es ahnen den unwillkürlich
zuckenden Froschkeulen des Galvani!

Geschichtlicher Überblick.
dablen, doch nie zu einer in letzter Instanz entscheidenden Macht.1)
Und ist auch nichts auf der Welt schwerer, als über allgemeine wirt-
schaftliche Fragen zu sprechen, ohne Unsinn zu reden — so geheim-
nisvoll weben hier die Nornen (Erwerben, Bewahren, Verwerten) das
Schicksal der Nationen und ihrer einzelnen Mitglieder — so vermögen
wir nichtsdestoweniger leicht die Bedeutung der Wirtschaft als vor-
wiegenden und mittleren Faktor aller Civilisation einzusehen. —
Politik bezeichnet nicht allein das Verhältnis einer Nation zu den
anderen, auch nicht allein den Widerstreit im Innern des Staates
zwischen den Einfluss suchenden Kreisen und Personen, sondern die
gesamte sichtbare und so zu sagen künstliche Organisation des gesell-
schaftlichen Körpers. Im zweiten Kapitel dieses Buches (S. 163) habe
ich das Recht definiert als: Willkür an Stelle von Instinkt in den Be-
ziehungen zwischen den Menschen; der Staat ist nun der Inbegriff
der gesamten zugleich unentbehrlichen und doch willkürlichen Ab-
machungen, und die Politik ist der Staat am Werke. Der Staat ist ge-
wissermassen der Wagen, die Politik der Kutscher; ein Kutscher aber,
der selber Wagner ist und an seinem Gefährt unaufhörlich herumbessert;
manchmal wirft er auch um und muss sich einen neuen Wagen bauen,
doch besitzt er dazu kein Material ausser dem alten, und so gleicht
denn das neue Fuhrwerk gewöhnlich bis auf kleine Äusserlichkeiten
dem früheren — es wäre denn, das wirtschaftliche Leben hätte wirklich
inzwischen noch nicht Dagewesenes herbeigeschafft. Die Kirche nenne
ich auf meiner Tafel zugleich mit Politik: es ging nicht anders; ist
der Staat der Inbegriff aller willkürlichen Abmachungen, so ist das,
was wir gewöhnlich und offiziell unter dem Wort »Kirche« verstehen,
das vollendetste Beispiel raffinirter Willkür. Denn hier ist nicht allein
von den Beziehungen der Menschen untereinander die Rede, sondern
der organisierende Trieb der Gesellschaft greift in das Innere des
Einzelnen hinein und verbietet ihm auch hier — so weit es gehen
will — der Notwendigkeit seines Wesens zu gehorchen, indem ihm
ein willkürlich festgesetztes, bis ins Einzelne bestimmtes Glaubensbe-
kenntnis, sowie ein bestimmtes Zeremoniell für die Erhebung des
Gemütes zur Gottheit, als Gesetz aufgezwungen wird. Die Notwendig-

1) Das Wort Reaktion verstehe ich hier natürlich wissenschaftlich, als eine
Bewegung, die auf einen Reiz hin erfolgt, nicht im Sinne unserer modernen
Parteibenennungen; doch ist der Unterschied nicht gar so gross und gleichen
unsere sogenannten »Reaktionäre« mehr als sie es ahnen den unwillkürlich
zuckenden Froschkeulen des Galvani!
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[735/0214] Geschichtlicher Überblick. dablen, doch nie zu einer in letzter Instanz entscheidenden Macht. 1) Und ist auch nichts auf der Welt schwerer, als über allgemeine wirt- schaftliche Fragen zu sprechen, ohne Unsinn zu reden — so geheim- nisvoll weben hier die Nornen (Erwerben, Bewahren, Verwerten) das Schicksal der Nationen und ihrer einzelnen Mitglieder — so vermögen wir nichtsdestoweniger leicht die Bedeutung der Wirtschaft als vor- wiegenden und mittleren Faktor aller Civilisation einzusehen. — Politik bezeichnet nicht allein das Verhältnis einer Nation zu den anderen, auch nicht allein den Widerstreit im Innern des Staates zwischen den Einfluss suchenden Kreisen und Personen, sondern die gesamte sichtbare und so zu sagen künstliche Organisation des gesell- schaftlichen Körpers. Im zweiten Kapitel dieses Buches (S. 163) habe ich das Recht definiert als: Willkür an Stelle von Instinkt in den Be- ziehungen zwischen den Menschen; der Staat ist nun der Inbegriff der gesamten zugleich unentbehrlichen und doch willkürlichen Ab- machungen, und die Politik ist der Staat am Werke. Der Staat ist ge- wissermassen der Wagen, die Politik der Kutscher; ein Kutscher aber, der selber Wagner ist und an seinem Gefährt unaufhörlich herumbessert; manchmal wirft er auch um und muss sich einen neuen Wagen bauen, doch besitzt er dazu kein Material ausser dem alten, und so gleicht denn das neue Fuhrwerk gewöhnlich bis auf kleine Äusserlichkeiten dem früheren — es wäre denn, das wirtschaftliche Leben hätte wirklich inzwischen noch nicht Dagewesenes herbeigeschafft. Die Kirche nenne ich auf meiner Tafel zugleich mit Politik: es ging nicht anders; ist der Staat der Inbegriff aller willkürlichen Abmachungen, so ist das, was wir gewöhnlich und offiziell unter dem Wort »Kirche« verstehen, das vollendetste Beispiel raffinirter Willkür. Denn hier ist nicht allein von den Beziehungen der Menschen untereinander die Rede, sondern der organisierende Trieb der Gesellschaft greift in das Innere des Einzelnen hinein und verbietet ihm auch hier — so weit es gehen will — der Notwendigkeit seines Wesens zu gehorchen, indem ihm ein willkürlich festgesetztes, bis ins Einzelne bestimmtes Glaubensbe- kenntnis, sowie ein bestimmtes Zeremoniell für die Erhebung des Gemütes zur Gottheit, als Gesetz aufgezwungen wird. Die Notwendig- 1) Das Wort Reaktion verstehe ich hier natürlich wissenschaftlich, als eine Bewegung, die auf einen Reiz hin erfolgt, nicht im Sinne unserer modernen Parteibenennungen; doch ist der Unterschied nicht gar so gross und gleichen unsere sogenannten »Reaktionäre« mehr als sie es ahnen den unwillkürlich zuckenden Froschkeulen des Galvani!

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 735. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/214>, abgerufen am 21.11.2024.