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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.
keit von Kirchen nachweisen, hiesse Eulen nach Athen tragen, doch
werden wir nicht deswegen bezweifeln, dass wir hier den Finger auf
den wundesten Punkt aller Politik gelegt haben, auf denjenigen, wo
die Politik sich von der bedenklichsten Seite zeigt. Sonst konnte sie
viele und manchmal recht mörderische Fehler begehen, hier liegt aber
die Versuchung zum grössten aller Frevel nahe, zu der eigentlichen
"Sünde gegen den heiligen Geist", welche ist: die Vergewaltigung
des inneren Menschen, der Raub der Persönlichkeit. -- Weltan-
schauung
habe ich statt Philosophie gesetzt, denn dieses griechische
"Weisheit liebend" ist eine traurig blasse und kalte Vokabel, und
gerade hier handelt es sich um Farbe und Glut. Weisheit! Was ist
Weisheit? Ich werde hoffentlich nicht in die Lage kommen, Sokrates
und die Pythia anführen zu müssen, damit die Ablehnung eines
griechischen Wortes gerechtfertigt werde! Dagegen ist die deutsche
Sprache hier, wie so oft, unendlich tief; sie nährt uns mit guten
Gedanken, die uns mühelos zufliessen, wie die Muttermilch dem Kinde.
"Welt" heisst ursprünglich nicht die Erde, nicht der Kosmos, sondern
die Menschheit.1) Streift auch das Auge durch den Raum, folgt ihm
der Gedanke wie jene Elfen, die auf Strahlen reitend jede Entfernung
mühelos zurücklegen: der Mensch kann doch nur sich selbst kennen,
seine Weisheit wird immer Menschenweisheit sein, seine Weltan-
schauung, wie makrokosmisch sie sich auch im Wahne des Allum-
fassens ausdehnen mag, wird immer nur das mikrokosmische Bild in
dem Gehirn eines einzelnen Menschen sein. Das erste Glied dieses
Wortes Weltanschauung weist uns also gebieterisch auf unsere Menschen-
natur und auf ihre Grenzen hin. Von einer absoluten "Weisheit"
(wie das griechische Rezept es will), von irgend einem noch so
diminutiven absoluten Wissen kann nicht die Rede sein, sondern nur
von Menschenwissen, von dem, was verschiedene Menschen zu ver-
schiedenen Zeiten zu wissen gemeint haben. Und nun, was ist dieses
Menschenwissen? Darauf antwortet das deutsche Wort: um den
Namen "Wissen" zu verdienen, muss es Anschauung sein. Wie Arthur
Schopenhauer sagt: "Wirklich liegt alle Wahrheit und alle Weisheit
zuletzt in der Anschauung". Und weil dem so ist, kommt es für
den relativen Wert einer Weltanschauung mehr auf die Sehkraft als
auf die abstrakte Denkkraft an, mehr auf die Richtigkeit der Perspektive,
auf die Lebhaftigkeit des Bildes, auf die künstlerischen Eigenschaften

1) Kollektivum aus wer: Mann, und ylde: Menschen gebildet (Kluge).

Die Entstehung einer neuen Welt.
keit von Kirchen nachweisen, hiesse Eulen nach Athen tragen, doch
werden wir nicht deswegen bezweifeln, dass wir hier den Finger auf
den wundesten Punkt aller Politik gelegt haben, auf denjenigen, wo
die Politik sich von der bedenklichsten Seite zeigt. Sonst konnte sie
viele und manchmal recht mörderische Fehler begehen, hier liegt aber
die Versuchung zum grössten aller Frevel nahe, zu der eigentlichen
»Sünde gegen den heiligen Geist«, welche ist: die Vergewaltigung
des inneren Menschen, der Raub der Persönlichkeit. — Weltan-
schauung
habe ich statt Philosophie gesetzt, denn dieses griechische
»Weisheit liebend« ist eine traurig blasse und kalte Vokabel, und
gerade hier handelt es sich um Farbe und Glut. Weisheit! Was ist
Weisheit? Ich werde hoffentlich nicht in die Lage kommen, Sokrates
und die Pythia anführen zu müssen, damit die Ablehnung eines
griechischen Wortes gerechtfertigt werde! Dagegen ist die deutsche
Sprache hier, wie so oft, unendlich tief; sie nährt uns mit guten
Gedanken, die uns mühelos zufliessen, wie die Muttermilch dem Kinde.
»Welt« heisst ursprünglich nicht die Erde, nicht der Kosmos, sondern
die Menschheit.1) Streift auch das Auge durch den Raum, folgt ihm
der Gedanke wie jene Elfen, die auf Strahlen reitend jede Entfernung
mühelos zurücklegen: der Mensch kann doch nur sich selbst kennen,
seine Weisheit wird immer Menschenweisheit sein, seine Weltan-
schauung, wie makrokosmisch sie sich auch im Wahne des Allum-
fassens ausdehnen mag, wird immer nur das mikrokosmische Bild in
dem Gehirn eines einzelnen Menschen sein. Das erste Glied dieses
Wortes Weltanschauung weist uns also gebieterisch auf unsere Menschen-
natur und auf ihre Grenzen hin. Von einer absoluten »Weisheit«
(wie das griechische Rezept es will), von irgend einem noch so
diminutiven absoluten Wissen kann nicht die Rede sein, sondern nur
von Menschenwissen, von dem, was verschiedene Menschen zu ver-
schiedenen Zeiten zu wissen gemeint haben. Und nun, was ist dieses
Menschenwissen? Darauf antwortet das deutsche Wort: um den
Namen »Wissen« zu verdienen, muss es Anschauung sein. Wie Arthur
Schopenhauer sagt: »Wirklich liegt alle Wahrheit und alle Weisheit
zuletzt in der Anschauung«. Und weil dem so ist, kommt es für
den relativen Wert einer Weltanschauung mehr auf die Sehkraft als
auf die abstrakte Denkkraft an, mehr auf die Richtigkeit der Perspektive,
auf die Lebhaftigkeit des Bildes, auf die künstlerischen Eigenschaften

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[736/0215] Die Entstehung einer neuen Welt. keit von Kirchen nachweisen, hiesse Eulen nach Athen tragen, doch werden wir nicht deswegen bezweifeln, dass wir hier den Finger auf den wundesten Punkt aller Politik gelegt haben, auf denjenigen, wo die Politik sich von der bedenklichsten Seite zeigt. Sonst konnte sie viele und manchmal recht mörderische Fehler begehen, hier liegt aber die Versuchung zum grössten aller Frevel nahe, zu der eigentlichen »Sünde gegen den heiligen Geist«, welche ist: die Vergewaltigung des inneren Menschen, der Raub der Persönlichkeit. — Weltan- schauung habe ich statt Philosophie gesetzt, denn dieses griechische »Weisheit liebend« ist eine traurig blasse und kalte Vokabel, und gerade hier handelt es sich um Farbe und Glut. Weisheit! Was ist Weisheit? Ich werde hoffentlich nicht in die Lage kommen, Sokrates und die Pythia anführen zu müssen, damit die Ablehnung eines griechischen Wortes gerechtfertigt werde! Dagegen ist die deutsche Sprache hier, wie so oft, unendlich tief; sie nährt uns mit guten Gedanken, die uns mühelos zufliessen, wie die Muttermilch dem Kinde. »Welt« heisst ursprünglich nicht die Erde, nicht der Kosmos, sondern die Menschheit. 1) Streift auch das Auge durch den Raum, folgt ihm der Gedanke wie jene Elfen, die auf Strahlen reitend jede Entfernung mühelos zurücklegen: der Mensch kann doch nur sich selbst kennen, seine Weisheit wird immer Menschenweisheit sein, seine Weltan- schauung, wie makrokosmisch sie sich auch im Wahne des Allum- fassens ausdehnen mag, wird immer nur das mikrokosmische Bild in dem Gehirn eines einzelnen Menschen sein. Das erste Glied dieses Wortes Weltanschauung weist uns also gebieterisch auf unsere Menschen- natur und auf ihre Grenzen hin. Von einer absoluten »Weisheit« (wie das griechische Rezept es will), von irgend einem noch so diminutiven absoluten Wissen kann nicht die Rede sein, sondern nur von Menschenwissen, von dem, was verschiedene Menschen zu ver- schiedenen Zeiten zu wissen gemeint haben. Und nun, was ist dieses Menschenwissen? Darauf antwortet das deutsche Wort: um den Namen »Wissen« zu verdienen, muss es Anschauung sein. Wie Arthur Schopenhauer sagt: »Wirklich liegt alle Wahrheit und alle Weisheit zuletzt in der Anschauung«. Und weil dem so ist, kommt es für den relativen Wert einer Weltanschauung mehr auf die Sehkraft als auf die abstrakte Denkkraft an, mehr auf die Richtigkeit der Perspektive, auf die Lebhaftigkeit des Bildes, auf die künstlerischen Eigenschaften 1) Kollektivum aus wër: Mann, und ylde: Menschen gebildet (Kluge).

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 736. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/215>, abgerufen am 21.11.2024.