Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.Geschichtlicher Überblick. desselben (wenn ich mich so ausdrücken darf), als auf die Menge desGeschauten. Der Unterschied zwischen dem Angeschauten und dem Gewussten gleicht dem zwischen Rembrandt's "Landschaft mit den drei Bäumen" und einer Photographie von demselben Standpunkt auf- genommen. Hiermit ist aber die Weisheit, die in dem Worte Welt- anschauung liegt, noch nicht erschöpft; denn die Sanskritwurzel des Wortes "schauen" bedeutet "Dichten": wie das Beispiel mit Rembrandt zeigt, ist das Schauen, weit entfernt ein passives Aufnehmen von Ein- drücken zu sein, die aktivste Bethätigung der Persönlichkeit; in der Anschauung ist Jeder notgedrungen Dichter, sonst "schaut" er gar nichts, sondern spiegelt mechanisch das Gesehene wieder wie ein Tier.1) Darum ist die ursprüngliche Bedeutung des (mit Schauen verwandten) Wortes schön nicht "hübsch", sondern "deutlich zu sehen, hell be- leuchtet". Gerade diese Deutlichkeit ist das Werk des beschauenden Subjektes; die Natur ist an und für sich nicht deutlich, vielmehr bleibt sie uns zunächst, wie Faust klagt, "edel-stumm"; ebensowenig wird das Bild in unserem Hirn von aussen beleuchtet: um es genau zu erblicken, muss innerlich eine helle Fackel angezündet werden. Schön- heit ist die Zugabe des Menschen: durch sie wird aus Natur Kunst, und durch sie wird aus Chaos Anschauung. Hier gilt Schiller's Wort von dem Schönen und Wahren: Es ist nicht draussen, da sucht es der Thor; Die Alten hatten zwar gemeint, das Chaos sei ein vorangegangener, Allererst ist das Chaos entstanden singt schon Hesiod; und nun sollte die allmähliche Entwickelung zu 1) Vergl. hierzu die grundlegenden Ausführungen am Anfang des ersten
Kapitels dieses Buches über das Menschwerden des Menschen. (S. 53 bis 62.) Geschichtlicher Überblick. desselben (wenn ich mich so ausdrücken darf), als auf die Menge desGeschauten. Der Unterschied zwischen dem Angeschauten und dem Gewussten gleicht dem zwischen Rembrandt’s »Landschaft mit den drei Bäumen« und einer Photographie von demselben Standpunkt auf- genommen. Hiermit ist aber die Weisheit, die in dem Worte Welt- anschauung liegt, noch nicht erschöpft; denn die Sanskritwurzel des Wortes »schauen« bedeutet »Dichten«: wie das Beispiel mit Rembrandt zeigt, ist das Schauen, weit entfernt ein passives Aufnehmen von Ein- drücken zu sein, die aktivste Bethätigung der Persönlichkeit; in der Anschauung ist Jeder notgedrungen Dichter, sonst »schaut« er gar nichts, sondern spiegelt mechanisch das Gesehene wieder wie ein Tier.1) Darum ist die ursprüngliche Bedeutung des (mit Schauen verwandten) Wortes schön nicht »hübsch«, sondern »deutlich zu sehen, hell be- leuchtet«. Gerade diese Deutlichkeit ist das Werk des beschauenden Subjektes; die Natur ist an und für sich nicht deutlich, vielmehr bleibt sie uns zunächst, wie Faust klagt, »edel-stumm«; ebensowenig wird das Bild in unserem Hirn von aussen beleuchtet: um es genau zu erblicken, muss innerlich eine helle Fackel angezündet werden. Schön- heit ist die Zugabe des Menschen: durch sie wird aus Natur Kunst, und durch sie wird aus Chaos Anschauung. Hier gilt Schiller’s Wort von dem Schönen und Wahren: Es ist nicht draussen, da sucht es der Thor; Die Alten hatten zwar gemeint, das Chaos sei ein vorangegangener, Allererst ist das Chaos entstanden singt schon Hesiod; und nun sollte die allmähliche Entwickelung zu 1) Vergl. hierzu die grundlegenden Ausführungen am Anfang des ersten
Kapitels dieses Buches über das Menschwerden des Menschen. (S. 53 bis 62.) <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0216" n="737"/><fw place="top" type="header">Geschichtlicher Überblick.</fw><lb/> desselben (wenn ich mich so ausdrücken darf), als auf die Menge des<lb/> Geschauten. Der Unterschied zwischen dem Angeschauten und dem<lb/> Gewussten gleicht dem zwischen <hi rendition="#g">Rembrandt’s</hi> »Landschaft mit den<lb/> drei Bäumen« und einer Photographie von demselben Standpunkt auf-<lb/> genommen. Hiermit ist aber die Weisheit, die in dem Worte Welt-<lb/> anschauung liegt, noch nicht erschöpft; denn die Sanskritwurzel des<lb/> Wortes »schauen« bedeutet »Dichten«: wie das Beispiel mit Rembrandt<lb/> zeigt, ist das Schauen, weit entfernt ein passives Aufnehmen von Ein-<lb/> drücken zu sein, die aktivste Bethätigung der Persönlichkeit; in der<lb/> Anschauung ist Jeder notgedrungen Dichter, sonst »schaut« er gar<lb/> nichts, sondern spiegelt mechanisch das Gesehene wieder wie ein Tier.<note place="foot" n="1)">Vergl. hierzu die grundlegenden Ausführungen am Anfang des ersten<lb/> Kapitels dieses Buches über das Menschwerden des Menschen. (S. 53 bis 62.)</note><lb/> Darum ist die ursprüngliche Bedeutung des (mit Schauen verwandten)<lb/> Wortes <hi rendition="#g">schön</hi> nicht »hübsch«, sondern »deutlich zu sehen, hell be-<lb/> leuchtet«. Gerade diese Deutlichkeit ist das Werk des beschauenden<lb/> Subjektes; die Natur ist an und für sich nicht deutlich, vielmehr bleibt<lb/> sie uns zunächst, wie Faust klagt, »edel-stumm«; ebensowenig wird<lb/> das Bild in unserem Hirn von aussen beleuchtet: um es genau zu<lb/> erblicken, muss innerlich eine helle Fackel angezündet werden. Schön-<lb/> heit ist die Zugabe des Menschen: durch sie wird aus Natur Kunst,<lb/> und durch sie wird aus Chaos Anschauung. Hier gilt Schiller’s Wort<lb/> von dem Schönen und Wahren:</p><lb/> <cit> <quote>Es ist nicht draussen, da sucht es der Thor;<lb/> Es ist in dir, du bringst es ewig hervor.</quote> </cit><lb/> <p>Die Alten hatten zwar gemeint, das Chaos sei ein vorangegangener,<lb/> überwundener Zustand der Welt.</p><lb/> <cit> <quote>Allererst ist das Chaos entstanden</quote> </cit><lb/> <p>singt schon Hesiod; und nun sollte die allmähliche Entwickelung zu<lb/> immer vollendeterer Gestaltung gefolgt sein: der kosmischen Natur<lb/> gegenüber eine offenbar ungereimte Vorstellung, da Natur gar nichts<lb/> ist, wenn nicht die Herrschaft des Gesetzes, ohne welche sie gänzlich<lb/> unerkennbar bliebe; wo aber Gesetz herrscht, da ist nicht Chaos. Nein,<lb/> das Chaos ist im Menschenkopf — nirgends anders — zu Hause ge-<lb/> wesen, bis es eben durch »Anschauung« zu deutlich sichtbarer, hell<lb/> beleuchteter Gestalt geformt wurde; und diese schöpferische Gestaltung<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [737/0216]
Geschichtlicher Überblick.
desselben (wenn ich mich so ausdrücken darf), als auf die Menge des
Geschauten. Der Unterschied zwischen dem Angeschauten und dem
Gewussten gleicht dem zwischen Rembrandt’s »Landschaft mit den
drei Bäumen« und einer Photographie von demselben Standpunkt auf-
genommen. Hiermit ist aber die Weisheit, die in dem Worte Welt-
anschauung liegt, noch nicht erschöpft; denn die Sanskritwurzel des
Wortes »schauen« bedeutet »Dichten«: wie das Beispiel mit Rembrandt
zeigt, ist das Schauen, weit entfernt ein passives Aufnehmen von Ein-
drücken zu sein, die aktivste Bethätigung der Persönlichkeit; in der
Anschauung ist Jeder notgedrungen Dichter, sonst »schaut« er gar
nichts, sondern spiegelt mechanisch das Gesehene wieder wie ein Tier. 1)
Darum ist die ursprüngliche Bedeutung des (mit Schauen verwandten)
Wortes schön nicht »hübsch«, sondern »deutlich zu sehen, hell be-
leuchtet«. Gerade diese Deutlichkeit ist das Werk des beschauenden
Subjektes; die Natur ist an und für sich nicht deutlich, vielmehr bleibt
sie uns zunächst, wie Faust klagt, »edel-stumm«; ebensowenig wird
das Bild in unserem Hirn von aussen beleuchtet: um es genau zu
erblicken, muss innerlich eine helle Fackel angezündet werden. Schön-
heit ist die Zugabe des Menschen: durch sie wird aus Natur Kunst,
und durch sie wird aus Chaos Anschauung. Hier gilt Schiller’s Wort
von dem Schönen und Wahren:
Es ist nicht draussen, da sucht es der Thor;
Es ist in dir, du bringst es ewig hervor.
Die Alten hatten zwar gemeint, das Chaos sei ein vorangegangener,
überwundener Zustand der Welt.
Allererst ist das Chaos entstanden
singt schon Hesiod; und nun sollte die allmähliche Entwickelung zu
immer vollendeterer Gestaltung gefolgt sein: der kosmischen Natur
gegenüber eine offenbar ungereimte Vorstellung, da Natur gar nichts
ist, wenn nicht die Herrschaft des Gesetzes, ohne welche sie gänzlich
unerkennbar bliebe; wo aber Gesetz herrscht, da ist nicht Chaos. Nein,
das Chaos ist im Menschenkopf — nirgends anders — zu Hause ge-
wesen, bis es eben durch »Anschauung« zu deutlich sichtbarer, hell
beleuchteter Gestalt geformt wurde; und diese schöpferische Gestaltung
1) Vergl. hierzu die grundlegenden Ausführungen am Anfang des ersten
Kapitels dieses Buches über das Menschwerden des Menschen. (S. 53 bis 62.)
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |