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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.
bei Winkel- und Kurvenmessungen vorkommenden sogenannten "Funk-
tionen" gehören hierhin. Ohne diese Einführung der ungefähren
Werte wären unsere ganze Astronomie, Geodäsie, Physik, Mechanik,
sowie sehr bedeutende Teile unserer Industrie unmöglich. Und wie hat
man diese Revolution vollführt? Indem man einen nur im Menschen-
hirn geschnürten Knoten kühn durchhaute. Gelöst hätte dieser Knoten
nie werden können. Hier gerade, auf dem Gebiete der Mathematik,
wo alles so durchsichtig und widerspruchslos schien, war der Mensch
gar bald an der Grenze der ihm eigenen Gesetzmässigkeit angelangt;
er sah wohl ein, dass die Natur sich um das menschlich Denkbare
und Undenkbare nicht kümmerte und dass der Denkapparat des stolzen
Homo sapiens nicht dazu ausreichte, selbst das Allereinfachste -- das
Verhältnis der Grössen zu einander -- aufzufassen und auszusprechen;
doch was verschlug's? Wie wir gesehen haben, ging die Leidenschaft
des Germanen viel mehr auf Besitz denn auf rein formelle Gestaltung;
seine kluge Beobachtung der Natur, seine hochentwickelte Aufnahme-
fähigkeit überzeugte ihn bald, dass die formelle Lückenlosigkeit des
Bildes in unserer Vorstellung durchaus keine Bedingung sine qua non
für den Besitz, d. h. in diesem Falle für ein möglichst grosses Ver-
ständnis ist. Bei dem Griechen war der Respekt des Menschen vor
sich selbst, vor seiner menschlichen Natur das Massgebende; Gedanken
zu hegen, die nicht in allen Teilen denkbar waren, dünkte ihm Ver-
brechen am Menschentum; der Germane dagegen empfand ungleich
lebhafter als der Hellene den Respekt vor der Natur (im Gegensatz
zum Menschen) und ausserdem hat er sich, wie sein Faust, niemals
vor Verträgen mit dem Teufel gescheut. Und so erfand er zunächst
die imaginären Grössen, d. h. die unbedingt undenkbaren Zahlen,
deren Typus

ist. In den Lehrbüchern pflegt man sie als "Grössen, die nur in
der Einbildung bestehen", zu definieren; richtiger wäre es vielleicht zu
sagen: die überall, nur nicht in der Einbildung vorkommen können,
denn der Mensch ist unfähig, sich dabei etwas vorzustellen. Mit
dieser genialen Erfindung der Goten und Lombarden des nördlichsten

schon auf 200 Decimalstellen berechnet; man könnte sie auf 2 000 000 Stellen be-
rechnen, es wäre immer nur eine Annäherung. Durch ein solches einfaches Beispiel
wird die organische Unzulänglichkeit des Menschengeistes, seine Unfähigkeit, selbst
ganz einfache Verhältnisse zum Ausdruck zu bringen, recht handgreiflich dargethan.
(Über den Beitrag der Indoarier zur Erforschung der irrationalen Zahlen, siehe S. 408.)

Die Entstehung einer neuen Welt.
bei Winkel- und Kurvenmessungen vorkommenden sogenannten »Funk-
tionen« gehören hierhin. Ohne diese Einführung der ungefähren
Werte wären unsere ganze Astronomie, Geodäsie, Physik, Mechanik,
sowie sehr bedeutende Teile unserer Industrie unmöglich. Und wie hat
man diese Revolution vollführt? Indem man einen nur im Menschen-
hirn geschnürten Knoten kühn durchhaute. Gelöst hätte dieser Knoten
nie werden können. Hier gerade, auf dem Gebiete der Mathematik,
wo alles so durchsichtig und widerspruchslos schien, war der Mensch
gar bald an der Grenze der ihm eigenen Gesetzmässigkeit angelangt;
er sah wohl ein, dass die Natur sich um das menschlich Denkbare
und Undenkbare nicht kümmerte und dass der Denkapparat des stolzen
Homo sapiens nicht dazu ausreichte, selbst das Allereinfachste — das
Verhältnis der Grössen zu einander — aufzufassen und auszusprechen;
doch was verschlug’s? Wie wir gesehen haben, ging die Leidenschaft
des Germanen viel mehr auf Besitz denn auf rein formelle Gestaltung;
seine kluge Beobachtung der Natur, seine hochentwickelte Aufnahme-
fähigkeit überzeugte ihn bald, dass die formelle Lückenlosigkeit des
Bildes in unserer Vorstellung durchaus keine Bedingung sine qua non
für den Besitz, d. h. in diesem Falle für ein möglichst grosses Ver-
ständnis ist. Bei dem Griechen war der Respekt des Menschen vor
sich selbst, vor seiner menschlichen Natur das Massgebende; Gedanken
zu hegen, die nicht in allen Teilen denkbar waren, dünkte ihm Ver-
brechen am Menschentum; der Germane dagegen empfand ungleich
lebhafter als der Hellene den Respekt vor der Natur (im Gegensatz
zum Menschen) und ausserdem hat er sich, wie sein Faust, niemals
vor Verträgen mit dem Teufel gescheut. Und so erfand er zunächst
die imaginären Grössen, d. h. die unbedingt undenkbaren Zahlen,
deren Typus

ist. In den Lehrbüchern pflegt man sie als »Grössen, die nur in
der Einbildung bestehen«, zu definieren; richtiger wäre es vielleicht zu
sagen: die überall, nur nicht in der Einbildung vorkommen können,
denn der Mensch ist unfähig, sich dabei etwas vorzustellen. Mit
dieser genialen Erfindung der Goten und Lombarden des nördlichsten

schon auf 200 Decimalstellen berechnet; man könnte sie auf 2 000 000 Stellen be-
rechnen, es wäre immer nur eine Annäherung. Durch ein solches einfaches Beispiel
wird die organische Unzulänglichkeit des Menschengeistes, seine Unfähigkeit, selbst
ganz einfache Verhältnisse zum Ausdruck zu bringen, recht handgreiflich dargethan.
(Über den Beitrag der Indoarier zur Erforschung der irrationalen Zahlen, siehe S. 408.)
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[782/0261] Die Entstehung einer neuen Welt. bei Winkel- und Kurvenmessungen vorkommenden sogenannten »Funk- tionen« gehören hierhin. Ohne diese Einführung der ungefähren Werte wären unsere ganze Astronomie, Geodäsie, Physik, Mechanik, sowie sehr bedeutende Teile unserer Industrie unmöglich. Und wie hat man diese Revolution vollführt? Indem man einen nur im Menschen- hirn geschnürten Knoten kühn durchhaute. Gelöst hätte dieser Knoten nie werden können. Hier gerade, auf dem Gebiete der Mathematik, wo alles so durchsichtig und widerspruchslos schien, war der Mensch gar bald an der Grenze der ihm eigenen Gesetzmässigkeit angelangt; er sah wohl ein, dass die Natur sich um das menschlich Denkbare und Undenkbare nicht kümmerte und dass der Denkapparat des stolzen Homo sapiens nicht dazu ausreichte, selbst das Allereinfachste — das Verhältnis der Grössen zu einander — aufzufassen und auszusprechen; doch was verschlug’s? Wie wir gesehen haben, ging die Leidenschaft des Germanen viel mehr auf Besitz denn auf rein formelle Gestaltung; seine kluge Beobachtung der Natur, seine hochentwickelte Aufnahme- fähigkeit überzeugte ihn bald, dass die formelle Lückenlosigkeit des Bildes in unserer Vorstellung durchaus keine Bedingung sine qua non für den Besitz, d. h. in diesem Falle für ein möglichst grosses Ver- ständnis ist. Bei dem Griechen war der Respekt des Menschen vor sich selbst, vor seiner menschlichen Natur das Massgebende; Gedanken zu hegen, die nicht in allen Teilen denkbar waren, dünkte ihm Ver- brechen am Menschentum; der Germane dagegen empfand ungleich lebhafter als der Hellene den Respekt vor der Natur (im Gegensatz zum Menschen) und ausserdem hat er sich, wie sein Faust, niemals vor Verträgen mit dem Teufel gescheut. Und so erfand er zunächst die imaginären Grössen, d. h. die unbedingt undenkbaren Zahlen, deren Typus [FORMEL] ist. In den Lehrbüchern pflegt man sie als »Grössen, die nur in der Einbildung bestehen«, zu definieren; richtiger wäre es vielleicht zu sagen: die überall, nur nicht in der Einbildung vorkommen können, denn der Mensch ist unfähig, sich dabei etwas vorzustellen. Mit dieser genialen Erfindung der Goten und Lombarden des nördlichsten 2) 2) schon auf 200 Decimalstellen berechnet; man könnte sie auf 2 000 000 Stellen be- rechnen, es wäre immer nur eine Annäherung. Durch ein solches einfaches Beispiel wird die organische Unzulänglichkeit des Menschengeistes, seine Unfähigkeit, selbst ganz einfache Verhältnisse zum Ausdruck zu bringen, recht handgreiflich dargethan. (Über den Beitrag der Indoarier zur Erforschung der irrationalen Zahlen, siehe S. 408.)

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 782. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/261>, abgerufen am 21.11.2024.