Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.Wissenschaft. Italiens1) erhielt das Rechnen eine früher ungeahnte Elasticität: dasabsolut Undenkbare diente nunmehr, um die Verhältnisse konkreter Thatsachen zu bestimmen, denen sonst gar nicht beizukommen gewesen wäre. Bald folgte dann der ergänzende Schritt: wo eine Grösse der anderen "unendlich" nahekommt, ohne sie jedoch je zu erreichen, wurde eine Brücke eigenmächtig hinübergeschlagen und über diese Brücke schritt man aus dem Reich des Unmöglichen in das Reich des Möglichen. So wurden z. B. die unlösbaren Probleme des Kreises dadurch gelöst, dass man diesen in ein Vieleck von "unendlich" vielen, folglich "unendlich" kleinen Seiten auflöste. Schon Pascal hatte von Grössen gesprochen, "die kleiner sind als irgend eine ge- gebene Grösse" und hatte sie als quantites negligeables bezeichnet;2) Newton und Leibniz gingen aber viel weiter, indem sie das Rechnen mit diesen unendlichen Reihen -- die vorhin genannte "Infinitesimal- rechnung" -- systematisch ausbildeten. Was hierdurch gewonnen wurde, ist einfach unermesslich; jetzt erst wurde die Mathematik aus Starrheit zu Leben erlöst, denn jetzt erst war sie in den Stand gesetzt, nicht allein ruhende Gestalt, sondern auch Bewegung genau zu analy- sieren. Ausserdem waren die irrationalen Zahlen jetzt gewissermassen aus der Welt geschafft, da wir sie, wo es Not thut, nunmehr um- gehen können. Nicht das allein aber, sondern ein Begriff, der früher nur in der Philosophie heimisch gewesen war, gehörte fortan der Mathematik und ward ein Elixir, das sie zu ungeahnt hohen Thaten kräftigte: der Begriff des Unendlichen. Ebenso wie der Fall ein- treten kann, dass zwei Grössen einander "unendlich" nahekommen, so kann es auch vorkommen, dass die eine "unendlich" zunimmt oder aber "unendlich" abnimmt, während die andere unverändert bleibt: das unendlich Grosse3) und das verschwindend Kleine -- zwei unbe- 1) Niccolo, genannt Tartaglia (d. h. der Stotterer) aus Brescia, und Cardanus aus Mailand; beide wirkten in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Doch kann man hier wie bei der Infinitesimalrechnung, den Fluxionen u. s. w. schwerlich bestimmte Erfinder angeben, denn die Notwendigkeit, die (durch die geographischen Entdeckungen gestellten) astronomischen und physikalischen Probleme zu lösen, brachte die verschiedensten Menschen auf ähnliche Gedanken. 2) Von diesem kühnen Manne meint bezeichnender Weise Sainte-Beuve, er bilde für sich allein "eine zweite fränkische Invasion in Gallien". In ihm richtet sich der rein germanische Geist noch einmal auf gegen das Frankreich über- schwemmende Völkerchaos und dessen Hauptorgan, den Jesuitenorden. 3) In die Mathematik wird das unendlich Grosse als die Einheit dividiert
durch eine "unendlich kleine" Zahl eingeführt. Berkeley bemerkt zu dieser An- Wissenschaft. Italiens1) erhielt das Rechnen eine früher ungeahnte Elasticität: dasabsolut Undenkbare diente nunmehr, um die Verhältnisse konkreter Thatsachen zu bestimmen, denen sonst gar nicht beizukommen gewesen wäre. Bald folgte dann der ergänzende Schritt: wo eine Grösse der anderen »unendlich« nahekommt, ohne sie jedoch je zu erreichen, wurde eine Brücke eigenmächtig hinübergeschlagen und über diese Brücke schritt man aus dem Reich des Unmöglichen in das Reich des Möglichen. So wurden z. B. die unlösbaren Probleme des Kreises dadurch gelöst, dass man diesen in ein Vieleck von »unendlich« vielen, folglich »unendlich« kleinen Seiten auflöste. Schon Pascal hatte von Grössen gesprochen, »die kleiner sind als irgend eine ge- gebene Grösse« und hatte sie als quantités négligeables bezeichnet;2) Newton und Leibniz gingen aber viel weiter, indem sie das Rechnen mit diesen unendlichen Reihen — die vorhin genannte »Infinitesimal- rechnung« — systematisch ausbildeten. Was hierdurch gewonnen wurde, ist einfach unermesslich; jetzt erst wurde die Mathematik aus Starrheit zu Leben erlöst, denn jetzt erst war sie in den Stand gesetzt, nicht allein ruhende Gestalt, sondern auch Bewegung genau zu analy- sieren. Ausserdem waren die irrationalen Zahlen jetzt gewissermassen aus der Welt geschafft, da wir sie, wo es Not thut, nunmehr um- gehen können. Nicht das allein aber, sondern ein Begriff, der früher nur in der Philosophie heimisch gewesen war, gehörte fortan der Mathematik und ward ein Elixir, das sie zu ungeahnt hohen Thaten kräftigte: der Begriff des Unendlichen. Ebenso wie der Fall ein- treten kann, dass zwei Grössen einander »unendlich« nahekommen, so kann es auch vorkommen, dass die eine »unendlich« zunimmt oder aber »unendlich« abnimmt, während die andere unverändert bleibt: das unendlich Grosse3) und das verschwindend Kleine — zwei unbe- 1) Niccolo, genannt Tartaglia (d. h. der Stotterer) aus Brescia, und Cardanus aus Mailand; beide wirkten in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Doch kann man hier wie bei der Infinitesimalrechnung, den Fluxionen u. s. w. schwerlich bestimmte Erfinder angeben, denn die Notwendigkeit, die (durch die geographischen Entdeckungen gestellten) astronomischen und physikalischen Probleme zu lösen, brachte die verschiedensten Menschen auf ähnliche Gedanken. 2) Von diesem kühnen Manne meint bezeichnender Weise Sainte-Beuve, er bilde für sich allein »eine zweite fränkische Invasion in Gallien«. In ihm richtet sich der rein germanische Geist noch einmal auf gegen das Frankreich über- schwemmende Völkerchaos und dessen Hauptorgan, den Jesuitenorden. 3) In die Mathematik wird das unendlich Grosse als die Einheit dividiert
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Wissenschaft.
Italiens 1) erhielt das Rechnen eine früher ungeahnte Elasticität: das
absolut Undenkbare diente nunmehr, um die Verhältnisse konkreter
Thatsachen zu bestimmen, denen sonst gar nicht beizukommen
gewesen wäre. Bald folgte dann der ergänzende Schritt: wo eine
Grösse der anderen »unendlich« nahekommt, ohne sie jedoch je zu
erreichen, wurde eine Brücke eigenmächtig hinübergeschlagen und über
diese Brücke schritt man aus dem Reich des Unmöglichen in das
Reich des Möglichen. So wurden z. B. die unlösbaren Probleme des
Kreises dadurch gelöst, dass man diesen in ein Vieleck von »unendlich«
vielen, folglich »unendlich« kleinen Seiten auflöste. Schon Pascal
hatte von Grössen gesprochen, »die kleiner sind als irgend eine ge-
gebene Grösse« und hatte sie als quantités négligeables bezeichnet; 2)
Newton und Leibniz gingen aber viel weiter, indem sie das Rechnen
mit diesen unendlichen Reihen — die vorhin genannte »Infinitesimal-
rechnung« — systematisch ausbildeten. Was hierdurch gewonnen
wurde, ist einfach unermesslich; jetzt erst wurde die Mathematik aus
Starrheit zu Leben erlöst, denn jetzt erst war sie in den Stand gesetzt,
nicht allein ruhende Gestalt, sondern auch Bewegung genau zu analy-
sieren. Ausserdem waren die irrationalen Zahlen jetzt gewissermassen
aus der Welt geschafft, da wir sie, wo es Not thut, nunmehr um-
gehen können. Nicht das allein aber, sondern ein Begriff, der früher
nur in der Philosophie heimisch gewesen war, gehörte fortan der
Mathematik und ward ein Elixir, das sie zu ungeahnt hohen Thaten
kräftigte: der Begriff des Unendlichen. Ebenso wie der Fall ein-
treten kann, dass zwei Grössen einander »unendlich« nahekommen,
so kann es auch vorkommen, dass die eine »unendlich« zunimmt oder
aber »unendlich« abnimmt, während die andere unverändert bleibt:
das unendlich Grosse 3) und das verschwindend Kleine — zwei unbe-
1) Niccolo, genannt Tartaglia (d. h. der Stotterer) aus Brescia, und Cardanus
aus Mailand; beide wirkten in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Doch kann
man hier wie bei der Infinitesimalrechnung, den Fluxionen u. s. w. schwerlich
bestimmte Erfinder angeben, denn die Notwendigkeit, die (durch die geographischen
Entdeckungen gestellten) astronomischen und physikalischen Probleme zu lösen,
brachte die verschiedensten Menschen auf ähnliche Gedanken.
2) Von diesem kühnen Manne meint bezeichnender Weise Sainte-Beuve, er
bilde für sich allein »eine zweite fränkische Invasion in Gallien«. In ihm richtet
sich der rein germanische Geist noch einmal auf gegen das Frankreich über-
schwemmende Völkerchaos und dessen Hauptorgan, den Jesuitenorden.
3) In die Mathematik wird das unendlich Grosse als die Einheit dividiert
durch eine »unendlich kleine« Zahl eingeführt. Berkeley bemerkt zu dieser An-
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