Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.Die Entstehung einer neuen Welt. dingt unvorstellbare Dinge -- sind also jetzt ebenfalls geschmeidigeBestandteile unserer Berechnungen geworden; wir können sie nicht denken, doch wir können sie gebrauchen, und aus diesem Gebrauch ergeben sich konkrete, eminent praktische Resultate. Unsere Kenntnis der Natur, unsere Befähigung, an viele ihrer Probleme auch nur heran- zutreten, beruht zum sehr grossen Teil auf dieser einen kühnen, selbst- herrlichen That: "Keine andere Idee", sagt Carnot, "hat uns so ein- fache und wirksame Mittel an die Hand gegeben, um die Naturgesetze genau kennen zu lernen."1) Die Alten hatten gesagt: non entis nulla sunt praedicata, von Dingen, die nicht sind, kann nichts ausgesagt werden; was aber nicht in unserem Kopf ist, kann recht wohl ausser- halb unseres Kopfes existieren, und umgekehrt können Dinge, die unzweifelhaft einzig innerhalb des Menschenkopfes Dasein besitzen und die wir selber als flagrant "unmöglich" erkennen, uns dennoch vor- zügliche Dienste leisten, als Werkzeuge, um eine uns Menschen nicht unmittelbar zugängliche Erkenntnis auf Umwegen zu ertrotzen. Der Charakter dieses Buches verbietet mir, diesen mathematischen nahme: "It is shocking to good sense"; das ist sie auch, doch leistet sie praktische Dienste, und darauf kommt es an. 1) Reflexions sur la methaphysique du calcul infinitesimal, 4e ed. 1860. Diese
Broschüre des berühmten Mathematikers ist so krystallklar, dass man wohl schwer- lich etwas Ähnliches über diesen durch die widerspruchsvolle Natur der Sache sonst ziemlich verworrenen Gegenstand finden wird. Wie Carnot sagt, es haben viele Mathematiker mit Erfolg auf dem Felde der Infinitesimalrechnung gearbeitet, ohne sich jemals eine klare Vorstellung des ihren Operationen zu Grunde liegenden Gedankens gemacht zu haben. "Glücklicher Weise", fährt er fort, "hat dies der Fruchtbarkeit der Erfindung nichts geschadet: denn es giebt gewisse grundlegende Ideen, welche niemals in voller Klarheit erfasst werden können, und die dennoch, sobald nur einige ihrer ersten Ergebnisse uns vor Augen stehen, dem Menschen- geist ein weites Feld eröffnen, das er nach allen Richtungen bequem durch- forschen kann." Die Entstehung einer neuen Welt. dingt unvorstellbare Dinge — sind also jetzt ebenfalls geschmeidigeBestandteile unserer Berechnungen geworden; wir können sie nicht denken, doch wir können sie gebrauchen, und aus diesem Gebrauch ergeben sich konkrete, eminent praktische Resultate. Unsere Kenntnis der Natur, unsere Befähigung, an viele ihrer Probleme auch nur heran- zutreten, beruht zum sehr grossen Teil auf dieser einen kühnen, selbst- herrlichen That: »Keine andere Idee«, sagt Carnot, »hat uns so ein- fache und wirksame Mittel an die Hand gegeben, um die Naturgesetze genau kennen zu lernen.«1) Die Alten hatten gesagt: non entis nulla sunt praedicata, von Dingen, die nicht sind, kann nichts ausgesagt werden; was aber nicht in unserem Kopf ist, kann recht wohl ausser- halb unseres Kopfes existieren, und umgekehrt können Dinge, die unzweifelhaft einzig innerhalb des Menschenkopfes Dasein besitzen und die wir selber als flagrant »unmöglich« erkennen, uns dennoch vor- zügliche Dienste leisten, als Werkzeuge, um eine uns Menschen nicht unmittelbar zugängliche Erkenntnis auf Umwegen zu ertrotzen. Der Charakter dieses Buches verbietet mir, diesen mathematischen nahme: »It is shocking to good sense«; das ist sie auch, doch leistet sie praktische Dienste, und darauf kommt es an. 1) Réflexions sur la méthaphysique du calcul infinitésimal, 4e éd. 1860. Diese
Broschüre des berühmten Mathematikers ist so krystallklar, dass man wohl schwer- lich etwas Ähnliches über diesen durch die widerspruchsvolle Natur der Sache sonst ziemlich verworrenen Gegenstand finden wird. Wie Carnot sagt, es haben viele Mathematiker mit Erfolg auf dem Felde der Infinitesimalrechnung gearbeitet, ohne sich jemals eine klare Vorstellung des ihren Operationen zu Grunde liegenden Gedankens gemacht zu haben. »Glücklicher Weise«, fährt er fort, »hat dies der Fruchtbarkeit der Erfindung nichts geschadet: denn es giebt gewisse grundlegende Ideen, welche niemals in voller Klarheit erfasst werden können, und die dennoch, sobald nur einige ihrer ersten Ergebnisse uns vor Augen stehen, dem Menschen- geist ein weites Feld eröffnen, das er nach allen Richtungen bequem durch- forschen kann.« <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0263" n="784"/><fw place="top" type="header">Die Entstehung einer neuen Welt.</fw><lb/> dingt unvorstellbare Dinge — sind also jetzt ebenfalls geschmeidige<lb/> Bestandteile unserer Berechnungen geworden; wir können sie nicht<lb/> denken, doch wir können sie gebrauchen, und aus diesem Gebrauch<lb/> ergeben sich konkrete, eminent praktische Resultate. Unsere Kenntnis<lb/> der Natur, unsere Befähigung, an viele ihrer Probleme auch nur heran-<lb/> zutreten, beruht zum sehr grossen Teil auf dieser einen kühnen, selbst-<lb/> herrlichen That: »Keine andere Idee«, sagt Carnot, »hat uns so ein-<lb/> fache und wirksame Mittel an die Hand gegeben, um die Naturgesetze<lb/> genau kennen zu lernen.«<note place="foot" n="1)"><hi rendition="#i">Réflexions sur la méthaphysique du calcul infinitésimal,</hi> 4<hi rendition="#sup">e</hi> éd. 1860. Diese<lb/> Broschüre des berühmten Mathematikers ist so krystallklar, dass man wohl schwer-<lb/> lich etwas Ähnliches über diesen durch die widerspruchsvolle Natur der Sache<lb/> sonst ziemlich verworrenen Gegenstand finden wird. Wie Carnot sagt, es haben<lb/> viele Mathematiker mit Erfolg auf dem Felde der Infinitesimalrechnung gearbeitet,<lb/> ohne sich jemals eine klare Vorstellung des ihren Operationen zu Grunde liegenden<lb/> Gedankens gemacht zu haben. »Glücklicher Weise«, fährt er fort, »hat dies der<lb/> Fruchtbarkeit der Erfindung nichts geschadet: denn es giebt gewisse grundlegende<lb/> Ideen, welche niemals in voller Klarheit erfasst werden können, und die dennoch,<lb/> sobald nur einige ihrer ersten Ergebnisse uns vor Augen stehen, dem Menschen-<lb/> geist ein weites Feld eröffnen, das er nach allen Richtungen bequem durch-<lb/> forschen kann.«</note> Die Alten hatten gesagt: <hi rendition="#i">non entis nulla<lb/> sunt praedicata,</hi> von Dingen, die nicht sind, kann nichts ausgesagt<lb/> werden; was aber nicht in unserem Kopf ist, kann recht wohl <hi rendition="#g">ausser-<lb/> halb</hi> unseres Kopfes existieren, und umgekehrt können Dinge, die<lb/> unzweifelhaft einzig innerhalb des Menschenkopfes Dasein besitzen und<lb/> die wir selber als flagrant »unmöglich« erkennen, uns dennoch vor-<lb/> zügliche Dienste leisten, als Werkzeuge, um eine uns Menschen nicht<lb/> unmittelbar zugängliche Erkenntnis auf Umwegen zu ertrotzen.</p><lb/> <p>Der Charakter dieses Buches verbietet mir, diesen mathematischen<lb/> Exkurs noch weiter zu verfolgen, wenn ich mich auch freue, in dem<lb/> Abschnitt über Wissenschaft die Gelegenheit gefunden zu haben, dieses<lb/> Hauptorgans alles systematischen Wissens gleich anfangs zu erwähnen:<lb/> wir haben gesehen, dass schon Leonardo als Ursache alles Lebens die<lb/> Bewegung erklärte, bald folgte Descartes, der die Materie selbst als<lb/> Bewegung auffasste — überall das Vordringen der im vorigen Abschnitt<lb/> betonten mechanischen Deutung empirischer Thatsachen! Mechanik<lb/> ist aber ein Ozean, der einzig mit dem Schiffe der Mathematik befahren<lb/> werden kann. Nur insofern eine Wissenschaft auf mathematische<lb/><note xml:id="seg2pn_19_2" prev="#seg2pn_19_1" place="foot" n="3)">nahme: »<hi rendition="#i">It is shocking to good sense</hi>«; das ist sie auch, doch leistet sie praktische<lb/> Dienste, und darauf kommt es an.</note><lb/></p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [784/0263]
Die Entstehung einer neuen Welt.
dingt unvorstellbare Dinge — sind also jetzt ebenfalls geschmeidige
Bestandteile unserer Berechnungen geworden; wir können sie nicht
denken, doch wir können sie gebrauchen, und aus diesem Gebrauch
ergeben sich konkrete, eminent praktische Resultate. Unsere Kenntnis
der Natur, unsere Befähigung, an viele ihrer Probleme auch nur heran-
zutreten, beruht zum sehr grossen Teil auf dieser einen kühnen, selbst-
herrlichen That: »Keine andere Idee«, sagt Carnot, »hat uns so ein-
fache und wirksame Mittel an die Hand gegeben, um die Naturgesetze
genau kennen zu lernen.« 1) Die Alten hatten gesagt: non entis nulla
sunt praedicata, von Dingen, die nicht sind, kann nichts ausgesagt
werden; was aber nicht in unserem Kopf ist, kann recht wohl ausser-
halb unseres Kopfes existieren, und umgekehrt können Dinge, die
unzweifelhaft einzig innerhalb des Menschenkopfes Dasein besitzen und
die wir selber als flagrant »unmöglich« erkennen, uns dennoch vor-
zügliche Dienste leisten, als Werkzeuge, um eine uns Menschen nicht
unmittelbar zugängliche Erkenntnis auf Umwegen zu ertrotzen.
Der Charakter dieses Buches verbietet mir, diesen mathematischen
Exkurs noch weiter zu verfolgen, wenn ich mich auch freue, in dem
Abschnitt über Wissenschaft die Gelegenheit gefunden zu haben, dieses
Hauptorgans alles systematischen Wissens gleich anfangs zu erwähnen:
wir haben gesehen, dass schon Leonardo als Ursache alles Lebens die
Bewegung erklärte, bald folgte Descartes, der die Materie selbst als
Bewegung auffasste — überall das Vordringen der im vorigen Abschnitt
betonten mechanischen Deutung empirischer Thatsachen! Mechanik
ist aber ein Ozean, der einzig mit dem Schiffe der Mathematik befahren
werden kann. Nur insofern eine Wissenschaft auf mathematische
3)
1) Réflexions sur la méthaphysique du calcul infinitésimal, 4e éd. 1860. Diese
Broschüre des berühmten Mathematikers ist so krystallklar, dass man wohl schwer-
lich etwas Ähnliches über diesen durch die widerspruchsvolle Natur der Sache
sonst ziemlich verworrenen Gegenstand finden wird. Wie Carnot sagt, es haben
viele Mathematiker mit Erfolg auf dem Felde der Infinitesimalrechnung gearbeitet,
ohne sich jemals eine klare Vorstellung des ihren Operationen zu Grunde liegenden
Gedankens gemacht zu haben. »Glücklicher Weise«, fährt er fort, »hat dies der
Fruchtbarkeit der Erfindung nichts geschadet: denn es giebt gewisse grundlegende
Ideen, welche niemals in voller Klarheit erfasst werden können, und die dennoch,
sobald nur einige ihrer ersten Ergebnisse uns vor Augen stehen, dem Menschen-
geist ein weites Feld eröffnen, das er nach allen Richtungen bequem durch-
forschen kann.«
3) nahme: »It is shocking to good sense«; das ist sie auch, doch leistet sie praktische
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