Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.Wissenschaft. Grundsätze zurückgeführt werden kann, dünkt sie uns exakt, und zwarweil sie nur insofern streng mechanisch und in Folge dessen "schiffbar" ist. "Nissuna humana investigatione si po dimandare vera scientia, s'essa non passa per le mattematiche dimostrationi", sagt Leonardo da Vinci;1) und auf die Stimme des italienischen Sehers an der Schwelle des 16. Jahrhunderts ertönt das Echo des deutschen Weltweisen an der Schwelle des 19. Jahrhunderts: "Ich behaupte, dass in jeder beson- deren Naturlehre nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen werden könne, als darin Mathematik anzutreffen ist."2) Doch verfolgte ich mit diesen Auseinandersetzungen, wie gleich 1) Libro di pittura I, 1 (Ausg. von Heinrich Ludwig). Von anderen dies- bezüglichen Aussprüchen des grossen Mannes mache ich besonders auf die Nr. 1158 in der Ausgabe der Schriften von J. P. Richter aufmerksam (II. 289): "Nessuna certezza delle scientie e, dove non si puo applicare una delle scientie matematiche e che non sono unite con esse matematiche". 2) Kant: Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, Vorrede. 3) Brief an Bayle, Juli 1687 (nach Höfer, 1. c. p. 482). Wie Bayle geant-
wortet hat, weiss ich nicht. In seinem Dictionnaire finde ich unter Zeno einen heftigen Ausfall auf alle Mathematik: "Die Mathematik hat einen unheilbaren, un- ermesslichen Fehler: sie ist nämlich eine blosse Chimäre. Die mathematischen Punkte und folglich auch die Linien und die Flächen der Geometer, ihre Sphären, Axen u. s. w.; das alles sind Hirngespinste, die niemals eine Spur Wirklichkeit besessen haben; deswegen sind diese Phantasien auch von geringerer Bedeutung als die der Dichter, denn diese erdichten nichts an und für sich Unmögliches, wie die Mathematiker u. s. w.". Dieser Schmähung ist keine besondere Bedeutung beizulegen; sie macht uns aber auf die wichtige Thatsache aufmerksam, dass die Mathematik nicht erst seit Cardanus und Leibniz, sondern seit jeher ihre Kraft aus der Annahme "imaginärer", sollte heissen gänzlich unvorstellbarer Grössen geschöpft hat; wohl überlegt ist der Punkt nach Euklid's Definition nicht weniger unvorstell- bar als Wie man sieht, es hat ein eigenes Bewenden mit unserem "exakten Wissenschaft. Grundsätze zurückgeführt werden kann, dünkt sie uns exakt, und zwarweil sie nur insofern streng mechanisch und in Folge dessen »schiffbar« ist. »Nissuna humana investigatione si po dimandare vera scientia, s’essa non passa per le mattematiche dimostrationi«, sagt Leonardo da Vinci;1) und auf die Stimme des italienischen Sehers an der Schwelle des 16. Jahrhunderts ertönt das Echo des deutschen Weltweisen an der Schwelle des 19. Jahrhunderts: »Ich behaupte, dass in jeder beson- deren Naturlehre nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen werden könne, als darin Mathematik anzutreffen ist.«2) Doch verfolgte ich mit diesen Auseinandersetzungen, wie gleich 1) Libro di pittura I, 1 (Ausg. von Heinrich Ludwig). Von anderen dies- bezüglichen Aussprüchen des grossen Mannes mache ich besonders auf die Nr. 1158 in der Ausgabe der Schriften von J. P. Richter aufmerksam (II. 289): »Nessuna certezza delle scientie è, dove non si può applicare una delle scientie matematiche e che non sono unite con esse matematiche«. 2) Kant: Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, Vorrede. 3) Brief an Bayle, Juli 1687 (nach Höfer, 1. c. p. 482). Wie Bayle geant-
wortet hat, weiss ich nicht. In seinem Dictionnaire finde ich unter Zeno einen heftigen Ausfall auf alle Mathematik: »Die Mathematik hat einen unheilbaren, un- ermesslichen Fehler: sie ist nämlich eine blosse Chimäre. Die mathematischen Punkte und folglich auch die Linien und die Flächen der Geometer, ihre Sphären, Axen u. s. w.; das alles sind Hirngespinste, die niemals eine Spur Wirklichkeit besessen haben; deswegen sind diese Phantasien auch von geringerer Bedeutung als die der Dichter, denn diese erdichten nichts an und für sich Unmögliches, wie die Mathematiker u. s. w.«. Dieser Schmähung ist keine besondere Bedeutung beizulegen; sie macht uns aber auf die wichtige Thatsache aufmerksam, dass die Mathematik nicht erst seit Cardanus und Leibniz, sondern seit jeher ihre Kraft aus der Annahme »imaginärer«, sollte heissen gänzlich unvorstellbarer Grössen geschöpft hat; wohl überlegt ist der Punkt nach Euklid’s Definition nicht weniger unvorstell- bar als Wie man sieht, es hat ein eigenes Bewenden mit unserem »exakten <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0264" n="785"/><fw place="top" type="header">Wissenschaft.</fw><lb/> Grundsätze zurückgeführt werden kann, dünkt sie uns exakt, und zwar<lb/> weil sie nur insofern streng mechanisch und in Folge dessen »schiffbar«<lb/> ist. »<hi rendition="#i">Nissuna humana investigatione si po dimandare vera scientia,<lb/> s’essa non passa per le mattematiche dimostrationi</hi>«, sagt Leonardo da<lb/> Vinci;<note place="foot" n="1)"><hi rendition="#i">Libro di pittura</hi> I, 1 (Ausg. von Heinrich Ludwig). Von anderen dies-<lb/> bezüglichen Aussprüchen des grossen Mannes mache ich besonders auf die Nr. 1158<lb/> in der Ausgabe der Schriften von J. P. Richter aufmerksam (II. 289): »<hi rendition="#i">Nessuna<lb/> certezza delle scientie è, dove non si può applicare una delle scientie matematiche e che<lb/> non sono unite con esse matematiche</hi>«.</note> und auf die Stimme des italienischen Sehers an der Schwelle<lb/> des 16. Jahrhunderts ertönt das Echo des deutschen Weltweisen an<lb/> der Schwelle des 19. Jahrhunderts: »Ich behaupte, dass in jeder beson-<lb/> deren Naturlehre nur so viel <hi rendition="#g">eigentliche</hi> Wissenschaft angetroffen<lb/> werden könne, als darin Mathematik anzutreffen ist.«<note place="foot" n="2)">Kant: <hi rendition="#i">Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft,</hi> Vorrede.</note></p><lb/> <p>Doch verfolgte ich mit diesen Auseinandersetzungen, wie gleich<lb/> anfangs angedeutet, einen allgemeineren Zweck; ich wollte die Eigen-<lb/> artigkeit nicht allein unserer Mathematik, sondern unserer germanischen<lb/> wissenschaftlichen Methode überhaupt aufzeigen; ich hoffe, es ist mir<lb/> gelungen. Die Moral des Gesagten kann ich am deutlichsten ziehen,<lb/> wenn ich einen Ausspruch von Leibniz anführe: »Die Ruhe kann als<lb/> eine unendlich kleine Geschwindigkeit oder auch als eine unendlich<lb/> grosse Verlangsamung betrachtet werden, so dass jedenfalls das Gesetz<lb/> der Ruhe lediglich als ein besonderer Fall innerhalb der Bewegungs-<lb/> gesetze aufzufassen ist. Desgleichen können wir zwei völlig gleiche<lb/> Grössen als ungleich annehmen (falls uns damit gedient wird), indem<lb/> wir die Ungleichheit als unendlich klein setzen; u. s. w.«<note xml:id="seg2pn_20_1" next="#seg2pn_20_2" place="foot" n="3)"><hi rendition="#i">Brief an Bayle,</hi> Juli 1687 (nach Höfer, 1. c. p. 482). Wie Bayle geant-<lb/> wortet hat, weiss ich nicht. In seinem <hi rendition="#i">Dictionnaire</hi> finde ich unter Zeno einen<lb/> heftigen Ausfall auf alle Mathematik: »Die Mathematik hat einen unheilbaren, un-<lb/> ermesslichen Fehler: sie ist nämlich eine blosse Chimäre. Die mathematischen<lb/> Punkte und folglich auch die Linien und die Flächen der Geometer, ihre Sphären,<lb/> Axen u. s. w.; das alles sind Hirngespinste, die niemals eine Spur Wirklichkeit<lb/> besessen haben; deswegen sind diese Phantasien auch von geringerer Bedeutung<lb/> als die der Dichter, denn diese erdichten nichts an und für sich Unmögliches,<lb/> wie die Mathematiker u. s. w.«. Dieser Schmähung ist keine besondere Bedeutung<lb/> beizulegen; sie macht uns aber auf die wichtige Thatsache aufmerksam, dass die<lb/> Mathematik nicht erst seit Cardanus und Leibniz, sondern seit jeher ihre Kraft aus<lb/> der Annahme »imaginärer«, sollte heissen gänzlich unvorstellbarer Grössen geschöpft<lb/> hat; wohl überlegt ist der Punkt nach Euklid’s Definition nicht weniger unvorstell-<lb/> bar als <formula notation="TeX">x=\sqrt{-1}</formula> Wie man sieht, es hat ein eigenes Bewenden mit unserem »exakten</note> Hierin<lb/></p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [785/0264]
Wissenschaft.
Grundsätze zurückgeführt werden kann, dünkt sie uns exakt, und zwar
weil sie nur insofern streng mechanisch und in Folge dessen »schiffbar«
ist. »Nissuna humana investigatione si po dimandare vera scientia,
s’essa non passa per le mattematiche dimostrationi«, sagt Leonardo da
Vinci; 1) und auf die Stimme des italienischen Sehers an der Schwelle
des 16. Jahrhunderts ertönt das Echo des deutschen Weltweisen an
der Schwelle des 19. Jahrhunderts: »Ich behaupte, dass in jeder beson-
deren Naturlehre nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen
werden könne, als darin Mathematik anzutreffen ist.« 2)
Doch verfolgte ich mit diesen Auseinandersetzungen, wie gleich
anfangs angedeutet, einen allgemeineren Zweck; ich wollte die Eigen-
artigkeit nicht allein unserer Mathematik, sondern unserer germanischen
wissenschaftlichen Methode überhaupt aufzeigen; ich hoffe, es ist mir
gelungen. Die Moral des Gesagten kann ich am deutlichsten ziehen,
wenn ich einen Ausspruch von Leibniz anführe: »Die Ruhe kann als
eine unendlich kleine Geschwindigkeit oder auch als eine unendlich
grosse Verlangsamung betrachtet werden, so dass jedenfalls das Gesetz
der Ruhe lediglich als ein besonderer Fall innerhalb der Bewegungs-
gesetze aufzufassen ist. Desgleichen können wir zwei völlig gleiche
Grössen als ungleich annehmen (falls uns damit gedient wird), indem
wir die Ungleichheit als unendlich klein setzen; u. s. w.« 3) Hierin
1) Libro di pittura I, 1 (Ausg. von Heinrich Ludwig). Von anderen dies-
bezüglichen Aussprüchen des grossen Mannes mache ich besonders auf die Nr. 1158
in der Ausgabe der Schriften von J. P. Richter aufmerksam (II. 289): »Nessuna
certezza delle scientie è, dove non si può applicare una delle scientie matematiche e che
non sono unite con esse matematiche«.
2) Kant: Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, Vorrede.
3) Brief an Bayle, Juli 1687 (nach Höfer, 1. c. p. 482). Wie Bayle geant-
wortet hat, weiss ich nicht. In seinem Dictionnaire finde ich unter Zeno einen
heftigen Ausfall auf alle Mathematik: »Die Mathematik hat einen unheilbaren, un-
ermesslichen Fehler: sie ist nämlich eine blosse Chimäre. Die mathematischen
Punkte und folglich auch die Linien und die Flächen der Geometer, ihre Sphären,
Axen u. s. w.; das alles sind Hirngespinste, die niemals eine Spur Wirklichkeit
besessen haben; deswegen sind diese Phantasien auch von geringerer Bedeutung
als die der Dichter, denn diese erdichten nichts an und für sich Unmögliches,
wie die Mathematiker u. s. w.«. Dieser Schmähung ist keine besondere Bedeutung
beizulegen; sie macht uns aber auf die wichtige Thatsache aufmerksam, dass die
Mathematik nicht erst seit Cardanus und Leibniz, sondern seit jeher ihre Kraft aus
der Annahme »imaginärer«, sollte heissen gänzlich unvorstellbarer Grössen geschöpft
hat; wohl überlegt ist der Punkt nach Euklid’s Definition nicht weniger unvorstell-
bar als [FORMEL] Wie man sieht, es hat ein eigenes Bewenden mit unserem »exakten
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