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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Wissenschaft.
"Seele" besser verstehen! Das Erfahrene kann aber gar nicht wahrheits-
gemäss zur "Wissenschaft" gestaltet werden, wenn der Mensch das
Gesetz giebt, anstatt es zu empfangen. Die kühnsten Fähigkeiten seines
Geistes, dessen ganze Elasticität und der unerschrockene Flug der
Phantasie werden in den Dienst des Beobachteten gezwungen, damit
dieses zu einem menschlich gegliederten Wissen zusammengereiht
werden könne. Gehorsam auf der einen Seite, nämlich gegen die
erfahrene Natur; Eigenmacht auf der anderen, nämlich dem Menschen-
geist gegenüber: das sind die Charakteristika germanischer Wissenschaft.

Auf dieser Grundlage erhebt sich nun unsere Theorie und Syste-Hellene und
Germane.

matik, ein kühnes Gebäude, dessen Hauptcharakter sich daraus ergiebt,
dass wir mehr Ingenieure als Architekten sind. Gestalter sind auch wir,
doch ist unser Zweck nicht die Schönheit des Gestalteten, auch nicht die
abgeschlossene, den Menschensinn endgültig befriedigende Gestaltung,
sondern die Feststellung eines Provisoriums, welches das Ansammeln
neuen Beobachtungsmaterials und damit ein weiteres Erkennen er-
möglicht. Das Werk eines Aristoteles wirkte auf die Wissenschaft
hemmend. Warum geschah das? Weil dieser hellenische Meistergeist
eiligst nach Abschluss verlangte, weil er keine Befriedigung kannte ehe
er ein fertiges, symmetrisches, durch und durch rationelles, menschlich
plausibles Gebäude vor Augen sah. In der Logik konnte auf diesem
Wege schon Endgültiges geleistet werden, da es sich hier um eine
ausschliesslich menschliche und ausschliesslich formale Wissenschaft von
allgemeiner Gültigkeit innerhalb des Menschentums handelte; dagegen
ist schon die Poetik und Kunstlehre weit weniger stichhaltig, weil das
Gesetz des hellenischen Geistes hier stillschweigend als Gesetz des
Menschengeistes überhaupt vorausgesetzt wird, was der Erfahrung wider-
spricht; in der Naturwissenschaft vollends -- und trotz einer oft erstaun-
lichen Fülle der Thatsachen -- herrscht der Grundsatz: aus möglichst
wenigen Beobachtungen möglichst viele apodiktische Schlüsse zu ziehen.
Hier liegt nicht Faulheit, auch nicht Flüchtigkeit, noch weniger Dilettantis-
mus vor, sondern die Voraussetzung: erstens, dass die Organisation des
Menschen der Organisation der Natur durchaus adäquat sei, so dass --
wenn ich mich so ausdrücken darf -- ein blosser Wink genügt, damit
wir einen ganzen Komplex von Phänomenen richtig deuten und über-
sehen; zweitens, dass der Menschengeist dem in der Gesamtheit der
Natur sich kundthuenden Prinzip oder Gesetz, oder wie man es nennen
will, nicht allein adäquat, sondern auch äquivalent sei (nicht allein gleich
an Umfang, sondern auch gleich an Wert). Daher wird dieser Menschen-

Wissenschaft.
»Seele« besser verstehen! Das Erfahrene kann aber gar nicht wahrheits-
gemäss zur »Wissenschaft« gestaltet werden, wenn der Mensch das
Gesetz giebt, anstatt es zu empfangen. Die kühnsten Fähigkeiten seines
Geistes, dessen ganze Elasticität und der unerschrockene Flug der
Phantasie werden in den Dienst des Beobachteten gezwungen, damit
dieses zu einem menschlich gegliederten Wissen zusammengereiht
werden könne. Gehorsam auf der einen Seite, nämlich gegen die
erfahrene Natur; Eigenmacht auf der anderen, nämlich dem Menschen-
geist gegenüber: das sind die Charakteristika germanischer Wissenschaft.

Auf dieser Grundlage erhebt sich nun unsere Theorie und Syste-Hellene und
Germane.

matik, ein kühnes Gebäude, dessen Hauptcharakter sich daraus ergiebt,
dass wir mehr Ingenieure als Architekten sind. Gestalter sind auch wir,
doch ist unser Zweck nicht die Schönheit des Gestalteten, auch nicht die
abgeschlossene, den Menschensinn endgültig befriedigende Gestaltung,
sondern die Feststellung eines Provisoriums, welches das Ansammeln
neuen Beobachtungsmaterials und damit ein weiteres Erkennen er-
möglicht. Das Werk eines Aristoteles wirkte auf die Wissenschaft
hemmend. Warum geschah das? Weil dieser hellenische Meistergeist
eiligst nach Abschluss verlangte, weil er keine Befriedigung kannte ehe
er ein fertiges, symmetrisches, durch und durch rationelles, menschlich
plausibles Gebäude vor Augen sah. In der Logik konnte auf diesem
Wege schon Endgültiges geleistet werden, da es sich hier um eine
ausschliesslich menschliche und ausschliesslich formale Wissenschaft von
allgemeiner Gültigkeit innerhalb des Menschentums handelte; dagegen
ist schon die Poetik und Kunstlehre weit weniger stichhaltig, weil das
Gesetz des hellenischen Geistes hier stillschweigend als Gesetz des
Menschengeistes überhaupt vorausgesetzt wird, was der Erfahrung wider-
spricht; in der Naturwissenschaft vollends — und trotz einer oft erstaun-
lichen Fülle der Thatsachen — herrscht der Grundsatz: aus möglichst
wenigen Beobachtungen möglichst viele apodiktische Schlüsse zu ziehen.
Hier liegt nicht Faulheit, auch nicht Flüchtigkeit, noch weniger Dilettantis-
mus vor, sondern die Voraussetzung: erstens, dass die Organisation des
Menschen der Organisation der Natur durchaus adäquat sei, so dass —
wenn ich mich so ausdrücken darf — ein blosser Wink genügt, damit
wir einen ganzen Komplex von Phänomenen richtig deuten und über-
sehen; zweitens, dass der Menschengeist dem in der Gesamtheit der
Natur sich kundthuenden Prinzip oder Gesetz, oder wie man es nennen
will, nicht allein adäquat, sondern auch äquivalent sei (nicht allein gleich
an Umfang, sondern auch gleich an Wert). Daher wird dieser Menschen-

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[787/0266] Wissenschaft. »Seele« besser verstehen! Das Erfahrene kann aber gar nicht wahrheits- gemäss zur »Wissenschaft« gestaltet werden, wenn der Mensch das Gesetz giebt, anstatt es zu empfangen. Die kühnsten Fähigkeiten seines Geistes, dessen ganze Elasticität und der unerschrockene Flug der Phantasie werden in den Dienst des Beobachteten gezwungen, damit dieses zu einem menschlich gegliederten Wissen zusammengereiht werden könne. Gehorsam auf der einen Seite, nämlich gegen die erfahrene Natur; Eigenmacht auf der anderen, nämlich dem Menschen- geist gegenüber: das sind die Charakteristika germanischer Wissenschaft. Auf dieser Grundlage erhebt sich nun unsere Theorie und Syste- matik, ein kühnes Gebäude, dessen Hauptcharakter sich daraus ergiebt, dass wir mehr Ingenieure als Architekten sind. Gestalter sind auch wir, doch ist unser Zweck nicht die Schönheit des Gestalteten, auch nicht die abgeschlossene, den Menschensinn endgültig befriedigende Gestaltung, sondern die Feststellung eines Provisoriums, welches das Ansammeln neuen Beobachtungsmaterials und damit ein weiteres Erkennen er- möglicht. Das Werk eines Aristoteles wirkte auf die Wissenschaft hemmend. Warum geschah das? Weil dieser hellenische Meistergeist eiligst nach Abschluss verlangte, weil er keine Befriedigung kannte ehe er ein fertiges, symmetrisches, durch und durch rationelles, menschlich plausibles Gebäude vor Augen sah. In der Logik konnte auf diesem Wege schon Endgültiges geleistet werden, da es sich hier um eine ausschliesslich menschliche und ausschliesslich formale Wissenschaft von allgemeiner Gültigkeit innerhalb des Menschentums handelte; dagegen ist schon die Poetik und Kunstlehre weit weniger stichhaltig, weil das Gesetz des hellenischen Geistes hier stillschweigend als Gesetz des Menschengeistes überhaupt vorausgesetzt wird, was der Erfahrung wider- spricht; in der Naturwissenschaft vollends — und trotz einer oft erstaun- lichen Fülle der Thatsachen — herrscht der Grundsatz: aus möglichst wenigen Beobachtungen möglichst viele apodiktische Schlüsse zu ziehen. Hier liegt nicht Faulheit, auch nicht Flüchtigkeit, noch weniger Dilettantis- mus vor, sondern die Voraussetzung: erstens, dass die Organisation des Menschen der Organisation der Natur durchaus adäquat sei, so dass — wenn ich mich so ausdrücken darf — ein blosser Wink genügt, damit wir einen ganzen Komplex von Phänomenen richtig deuten und über- sehen; zweitens, dass der Menschengeist dem in der Gesamtheit der Natur sich kundthuenden Prinzip oder Gesetz, oder wie man es nennen will, nicht allein adäquat, sondern auch äquivalent sei (nicht allein gleich an Umfang, sondern auch gleich an Wert). Daher wird dieser Menschen- Hellene und Germane.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 787. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/266>, abgerufen am 21.11.2024.