Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Entstehung einer neuen Welt.
geist ohne weiteres als Mittelpunkt angenommen, von wo aus nicht
allein die gesamte Natur spielend leicht überschaut, sondern auch alle
Dinge gleichsam von der Wiege bis ins Grab, nämlich von ihren ersten
Ursachen her bis in ihre angebliche Zweckmässigkeit verfolgt werden.
Diese Annahme ist ebenso falsch wie naiv: die Erfahrung hat es be-
wiesen. Unsere germanische Wissenschaft wandelte von Beginn an
andere Wege. Roger Bacon, im 13. Jahrhundert, warnte (bei aller
Hochschätzung) ebenso eindringlich vor Aristoteles und der ganzen
durch ihn personifizierten hellenischen Methode, wie drei Jahrhunderte
später Francis Bacon;1) die Renaissance war auf diesem Gebiete glück-
licher Weise bloss eine vorübergehende Krankheit und einzig im dunkel-
sten Schatten der Kirche fristete seither die Teleologie des Stagiriten
ein überflüssiges Dasein. Um die Sache recht anschaulich zu machen
können wir einen mathematischen Vergleich gebrauchen und sagen:
die Wissenschaft des Hellenen war gleichsam ein Kreis, in dessen Mitte
er selber stand; die germanische Wissenschaft gleicht dagegen einer
Ellipse. In einem der beiden Brennpunkte der Ellipse steht der Menschen-
geist, in dem anderen ein ihm gänzlich unbekanntes x. Gelingt es dem
Menschengeist in einem bestimmten Falle seinen eigenen Brennpunkt
dem zweiten Brennpunkt zu nähern, so nähert sich auch seine Wissen-
schaft einer Kreislinie;2) meist ist aber die Ellipse eine recht lang-
gezogene: an der einen Seite dringt der Verstand sehr tief in die
Summe des Gewussten hinein, an der anderen liegt er fast an der
Peripherie. Gar häufig steht der Mensch mit seinem Brennpunkt
(seiner bescheidenen Fackel!) ganz allein; alles Tasten reicht nicht hin,
um die Verbindung mit dem zweiten aufzufinden, und so entsteht
eine blosse Parabel, deren Zweige sich zwar in weiter Ferne zu nähern
scheinen, doch ohne je sich zu begegnen, so dass unsere Theorie
keine geschlossene Kurve abgiebt, sondern nur den Ansatz zu einer
möglichen, doch einstweilen unausführbaren.

Unser wissenschaftliches System ist, wie man sieht, die Ver-
leugnung des Absoluten. Kühn und glücklich sagt Goethe: "Wer
sich mit der Natur abgiebt, versucht die Quadratur des Zirkels".

1) Das entscheidende Wort Francis Bacon's findet sich in der Vorrede zu
seiner Instauratio magna und lautet: "Scientias non per arrogantiam in humani ingenii
cellulis, sed submisse in mundo majore quaerat.
"
2) Eine Ellipse, deren zwei Brennpunkte genau zusammenfallen, ist ein voll-
kommener Kreis.

Die Entstehung einer neuen Welt.
geist ohne weiteres als Mittelpunkt angenommen, von wo aus nicht
allein die gesamte Natur spielend leicht überschaut, sondern auch alle
Dinge gleichsam von der Wiege bis ins Grab, nämlich von ihren ersten
Ursachen her bis in ihre angebliche Zweckmässigkeit verfolgt werden.
Diese Annahme ist ebenso falsch wie naiv: die Erfahrung hat es be-
wiesen. Unsere germanische Wissenschaft wandelte von Beginn an
andere Wege. Roger Bacon, im 13. Jahrhundert, warnte (bei aller
Hochschätzung) ebenso eindringlich vor Aristoteles und der ganzen
durch ihn personifizierten hellenischen Methode, wie drei Jahrhunderte
später Francis Bacon;1) die Renaissance war auf diesem Gebiete glück-
licher Weise bloss eine vorübergehende Krankheit und einzig im dunkel-
sten Schatten der Kirche fristete seither die Teleologie des Stagiriten
ein überflüssiges Dasein. Um die Sache recht anschaulich zu machen
können wir einen mathematischen Vergleich gebrauchen und sagen:
die Wissenschaft des Hellenen war gleichsam ein Kreis, in dessen Mitte
er selber stand; die germanische Wissenschaft gleicht dagegen einer
Ellipse. In einem der beiden Brennpunkte der Ellipse steht der Menschen-
geist, in dem anderen ein ihm gänzlich unbekanntes x. Gelingt es dem
Menschengeist in einem bestimmten Falle seinen eigenen Brennpunkt
dem zweiten Brennpunkt zu nähern, so nähert sich auch seine Wissen-
schaft einer Kreislinie;2) meist ist aber die Ellipse eine recht lang-
gezogene: an der einen Seite dringt der Verstand sehr tief in die
Summe des Gewussten hinein, an der anderen liegt er fast an der
Peripherie. Gar häufig steht der Mensch mit seinem Brennpunkt
(seiner bescheidenen Fackel!) ganz allein; alles Tasten reicht nicht hin,
um die Verbindung mit dem zweiten aufzufinden, und so entsteht
eine blosse Parabel, deren Zweige sich zwar in weiter Ferne zu nähern
scheinen, doch ohne je sich zu begegnen, so dass unsere Theorie
keine geschlossene Kurve abgiebt, sondern nur den Ansatz zu einer
möglichen, doch einstweilen unausführbaren.

Unser wissenschaftliches System ist, wie man sieht, die Ver-
leugnung des Absoluten. Kühn und glücklich sagt Goethe: »Wer
sich mit der Natur abgiebt, versucht die Quadratur des Zirkels«.

1) Das entscheidende Wort Francis Bacon’s findet sich in der Vorrede zu
seiner Instauratio magna und lautet: »Scientias non per arrogantiam in humani ingenii
cellulis, sed submisse in mundo majore quaerat.
«
2) Eine Ellipse, deren zwei Brennpunkte genau zusammenfallen, ist ein voll-
kommener Kreis.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0267" n="788"/><fw place="top" type="header">Die Entstehung einer neuen Welt.</fw><lb/>
geist ohne weiteres als Mittelpunkt angenommen, von wo aus nicht<lb/>
allein die gesamte Natur spielend leicht überschaut, sondern auch alle<lb/>
Dinge gleichsam von der Wiege bis ins Grab, nämlich von ihren ersten<lb/>
Ursachen her bis in ihre angebliche Zweckmässigkeit verfolgt werden.<lb/>
Diese Annahme ist ebenso falsch wie naiv: die Erfahrung hat es be-<lb/>
wiesen. Unsere germanische Wissenschaft wandelte von Beginn an<lb/>
andere Wege. Roger Bacon, im 13. Jahrhundert, warnte (bei aller<lb/>
Hochschätzung) ebenso eindringlich vor Aristoteles und der ganzen<lb/>
durch ihn personifizierten hellenischen Methode, wie drei Jahrhunderte<lb/>
später Francis Bacon;<note place="foot" n="1)">Das entscheidende Wort Francis Bacon&#x2019;s findet sich in der Vorrede zu<lb/>
seiner <hi rendition="#i">Instauratio magna</hi> und lautet: »<hi rendition="#i">Scientias non per arrogantiam in humani ingenii<lb/>
cellulis, sed submisse in mundo majore quaerat.</hi>«</note> die Renaissance war auf diesem Gebiete glück-<lb/>
licher Weise bloss eine vorübergehende Krankheit und einzig im dunkel-<lb/>
sten Schatten der Kirche fristete seither die Teleologie des Stagiriten<lb/>
ein überflüssiges Dasein. Um die Sache recht anschaulich zu machen<lb/>
können wir einen mathematischen Vergleich gebrauchen und sagen:<lb/>
die Wissenschaft des Hellenen war gleichsam ein Kreis, in dessen Mitte<lb/>
er selber stand; die germanische Wissenschaft gleicht dagegen einer<lb/>
Ellipse. In einem der beiden Brennpunkte der Ellipse steht der Menschen-<lb/>
geist, in dem anderen ein ihm gänzlich unbekanntes <hi rendition="#i">x.</hi> Gelingt es dem<lb/>
Menschengeist in einem bestimmten Falle seinen eigenen Brennpunkt<lb/>
dem zweiten Brennpunkt zu nähern, so nähert sich auch seine Wissen-<lb/>
schaft einer Kreislinie;<note place="foot" n="2)">Eine Ellipse, deren zwei Brennpunkte genau zusammenfallen, ist ein voll-<lb/>
kommener Kreis.</note> meist ist aber die Ellipse eine recht lang-<lb/>
gezogene: an der einen Seite dringt der Verstand sehr tief in die<lb/>
Summe des Gewussten hinein, an der anderen liegt er fast an der<lb/>
Peripherie. Gar häufig steht der Mensch mit seinem Brennpunkt<lb/>
(seiner bescheidenen Fackel!) ganz allein; alles Tasten reicht nicht hin,<lb/>
um die Verbindung mit dem zweiten aufzufinden, und so entsteht<lb/>
eine blosse Parabel, deren Zweige sich zwar in weiter Ferne zu nähern<lb/>
scheinen, doch ohne je sich zu begegnen, so dass unsere Theorie<lb/>
keine geschlossene Kurve abgiebt, sondern nur den Ansatz zu einer<lb/>
möglichen, doch einstweilen unausführbaren.</p><lb/>
              <p>Unser wissenschaftliches System ist, wie man sieht, die Ver-<lb/>
leugnung des Absoluten. Kühn und glücklich sagt Goethe: »Wer<lb/>
sich mit der Natur abgiebt, versucht die Quadratur des Zirkels«.</p><lb/>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[788/0267] Die Entstehung einer neuen Welt. geist ohne weiteres als Mittelpunkt angenommen, von wo aus nicht allein die gesamte Natur spielend leicht überschaut, sondern auch alle Dinge gleichsam von der Wiege bis ins Grab, nämlich von ihren ersten Ursachen her bis in ihre angebliche Zweckmässigkeit verfolgt werden. Diese Annahme ist ebenso falsch wie naiv: die Erfahrung hat es be- wiesen. Unsere germanische Wissenschaft wandelte von Beginn an andere Wege. Roger Bacon, im 13. Jahrhundert, warnte (bei aller Hochschätzung) ebenso eindringlich vor Aristoteles und der ganzen durch ihn personifizierten hellenischen Methode, wie drei Jahrhunderte später Francis Bacon; 1) die Renaissance war auf diesem Gebiete glück- licher Weise bloss eine vorübergehende Krankheit und einzig im dunkel- sten Schatten der Kirche fristete seither die Teleologie des Stagiriten ein überflüssiges Dasein. Um die Sache recht anschaulich zu machen können wir einen mathematischen Vergleich gebrauchen und sagen: die Wissenschaft des Hellenen war gleichsam ein Kreis, in dessen Mitte er selber stand; die germanische Wissenschaft gleicht dagegen einer Ellipse. In einem der beiden Brennpunkte der Ellipse steht der Menschen- geist, in dem anderen ein ihm gänzlich unbekanntes x. Gelingt es dem Menschengeist in einem bestimmten Falle seinen eigenen Brennpunkt dem zweiten Brennpunkt zu nähern, so nähert sich auch seine Wissen- schaft einer Kreislinie; 2) meist ist aber die Ellipse eine recht lang- gezogene: an der einen Seite dringt der Verstand sehr tief in die Summe des Gewussten hinein, an der anderen liegt er fast an der Peripherie. Gar häufig steht der Mensch mit seinem Brennpunkt (seiner bescheidenen Fackel!) ganz allein; alles Tasten reicht nicht hin, um die Verbindung mit dem zweiten aufzufinden, und so entsteht eine blosse Parabel, deren Zweige sich zwar in weiter Ferne zu nähern scheinen, doch ohne je sich zu begegnen, so dass unsere Theorie keine geschlossene Kurve abgiebt, sondern nur den Ansatz zu einer möglichen, doch einstweilen unausführbaren. Unser wissenschaftliches System ist, wie man sieht, die Ver- leugnung des Absoluten. Kühn und glücklich sagt Goethe: »Wer sich mit der Natur abgiebt, versucht die Quadratur des Zirkels«. 1) Das entscheidende Wort Francis Bacon’s findet sich in der Vorrede zu seiner Instauratio magna und lautet: »Scientias non per arrogantiam in humani ingenii cellulis, sed submisse in mundo majore quaerat.« 2) Eine Ellipse, deren zwei Brennpunkte genau zusammenfallen, ist ein voll- kommener Kreis.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/267
Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 788. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/267>, abgerufen am 21.11.2024.