Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.Religion. derartig, dass ein jeder das Pfropfreis des anderen würde. Für beidewäre fortan ein Wachstum in die Höhe ausgeschlossen; eine Ver- edelung träte auch nicht ein, sondern eine Verkümmerung, denn eine organische Verschmelzung ist, wie jeder Botaniker weiss, in einem solchen Falle ausgeschlossen und jeder der beiden Bäume (falls die Operation den Tod nicht herbeigeführt hätte) würde fortfahren, seine eigenen Blätter und Blüten zu tragen, und im Gewirr des Laubes stiesse überall Fremdes unmittelbar auf Fremdes.1) Genau also ist es dem christlichen Religionsgebäude ergangen. Unvermittelt stehen jüdische Religionschronik und jüdischer Messiasglaube neben der mys- tischen Mythologie der hellenischen Decadence. Nicht allein ver- schmelzen sie nicht, sondern in den wesentlichsten Punkten wider- sprechen sie sich. So z. B. die Vorstellung der Gottheit: hier Jahve, dort die altarische Dreieinigkeit. So die Vorstellung des Messias: hier die Erwartung eines Helden aus dem Stamme David's, der den Juden die Weltherrschaft erobern wird, dort der Fleisch gewordene Logos, anknüpfend an metaphysische Spekulationen, welche die griechischen Philosophen seit 500 Jahren vor Christi Geburt beschäftigten.2) Christus, die unableugbare historische Persönlichkeit, wird in beide Systeme hineingezwängt: für den jüdischen historischen Mythus muss er den Messias abgeben, wenngleich sich Keiner weniger dazu eignete; in dem neoplatonischen Mythus bedeutet er die flüchtige, unbegreifliche Sichtbarwerdung eines abstrakten Gedankenschemas -- er! das moralische Genie in seiner höchsten Potenz, die gewaltigste Individualität, die je- mals auf Erden gelebt! Jedoch, wie sehr auch das notwendig Schwankende, Unzuläng- 1) Hamann deutet, wie ich nachträglich sehe, diesen Vergleich an: "Gehen Sie in welche Gemeinde der Christen Sie wollen, die Sprache auf der heiligen Stätte und ihr Vaterland und ihre Genealogie verraten, dass sie heidnische Zweige sind, gegen die Natur auf einen jüdischen Stamm gepfropft". (Vergl. Römer XI, 24.) 2) Ich sage 500 Jahre, denn über die Identität des Logos und des Nus siehe
Harnack: Dogmengeschichte § 22. Religion. derartig, dass ein jeder das Pfropfreis des anderen würde. Für beidewäre fortan ein Wachstum in die Höhe ausgeschlossen; eine Ver- edelung träte auch nicht ein, sondern eine Verkümmerung, denn eine organische Verschmelzung ist, wie jeder Botaniker weiss, in einem solchen Falle ausgeschlossen und jeder der beiden Bäume (falls die Operation den Tod nicht herbeigeführt hätte) würde fortfahren, seine eigenen Blätter und Blüten zu tragen, und im Gewirr des Laubes stiesse überall Fremdes unmittelbar auf Fremdes.1) Genau also ist es dem christlichen Religionsgebäude ergangen. Unvermittelt stehen jüdische Religionschronik und jüdischer Messiasglaube neben der mys- tischen Mythologie der hellenischen Décadence. Nicht allein ver- schmelzen sie nicht, sondern in den wesentlichsten Punkten wider- sprechen sie sich. So z. B. die Vorstellung der Gottheit: hier Jahve, dort die altarische Dreieinigkeit. So die Vorstellung des Messias: hier die Erwartung eines Helden aus dem Stamme David’s, der den Juden die Weltherrschaft erobern wird, dort der Fleisch gewordene Logos, anknüpfend an metaphysische Spekulationen, welche die griechischen Philosophen seit 500 Jahren vor Christi Geburt beschäftigten.2) Christus, die unableugbare historische Persönlichkeit, wird in beide Systeme hineingezwängt: für den jüdischen historischen Mythus muss er den Messias abgeben, wenngleich sich Keiner weniger dazu eignete; in dem neoplatonischen Mythus bedeutet er die flüchtige, unbegreifliche Sichtbarwerdung eines abstrakten Gedankenschemas — er! das moralische Genie in seiner höchsten Potenz, die gewaltigste Individualität, die je- mals auf Erden gelebt! Jedoch, wie sehr auch das notwendig Schwankende, Unzuläng- 1) Hamann deutet, wie ich nachträglich sehe, diesen Vergleich an: »Gehen Sie in welche Gemeinde der Christen Sie wollen, die Sprache auf der heiligen Stätte und ihr Vaterland und ihre Genealogie verraten, dass sie heidnische Zweige sind, gegen die Natur auf einen jüdischen Stamm gepfropft«. (Vergl. Römer XI, 24.) 2) Ich sage 500 Jahre, denn über die Identität des Logos und des Nus siehe
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Religion.
derartig, dass ein jeder das Pfropfreis des anderen würde. Für beide
wäre fortan ein Wachstum in die Höhe ausgeschlossen; eine Ver-
edelung träte auch nicht ein, sondern eine Verkümmerung, denn
eine organische Verschmelzung ist, wie jeder Botaniker weiss, in
einem solchen Falle ausgeschlossen und jeder der beiden Bäume (falls
die Operation den Tod nicht herbeigeführt hätte) würde fortfahren,
seine eigenen Blätter und Blüten zu tragen, und im Gewirr des
Laubes stiesse überall Fremdes unmittelbar auf Fremdes. 1) Genau also
ist es dem christlichen Religionsgebäude ergangen. Unvermittelt stehen
jüdische Religionschronik und jüdischer Messiasglaube neben der mys-
tischen Mythologie der hellenischen Décadence. Nicht allein ver-
schmelzen sie nicht, sondern in den wesentlichsten Punkten wider-
sprechen sie sich. So z. B. die Vorstellung der Gottheit: hier Jahve,
dort die altarische Dreieinigkeit. So die Vorstellung des Messias: hier
die Erwartung eines Helden aus dem Stamme David’s, der den Juden
die Weltherrschaft erobern wird, dort der Fleisch gewordene Logos,
anknüpfend an metaphysische Spekulationen, welche die griechischen
Philosophen seit 500 Jahren vor Christi Geburt beschäftigten. 2) Christus,
die unableugbare historische Persönlichkeit, wird in beide Systeme
hineingezwängt: für den jüdischen historischen Mythus muss er den
Messias abgeben, wenngleich sich Keiner weniger dazu eignete; in
dem neoplatonischen Mythus bedeutet er die flüchtige, unbegreifliche
Sichtbarwerdung eines abstrakten Gedankenschemas — er! das moralische
Genie in seiner höchsten Potenz, die gewaltigste Individualität, die je-
mals auf Erden gelebt!
Jedoch, wie sehr auch das notwendig Schwankende, Unzuläng-
liche eines solchen Zwitterwesens einleuchten muss, man kann sich kaum
vorstellen, wie in jenem Völkerchaos eine Weltreligion ohne das Zu-
sammenwirken dieser beiden Elemente hätte entstehen können. Freilich,
hätte Christus zu Indern oder Germanen gepredigt, so hätten wir seinem
Worte eine andere Wirkung zu danken gehabt! Nie hat es eine
weniger christliche Zeit gegeben — wenn mir das Paradoxon erlaubt
ist — als diejenigen Jahrhunderte, in denen die christliche Kirche ent-
1) Hamann deutet, wie ich nachträglich sehe, diesen Vergleich an: »Gehen Sie
in welche Gemeinde der Christen Sie wollen, die Sprache auf der heiligen Stätte
und ihr Vaterland und ihre Genealogie verraten, dass sie heidnische Zweige sind,
gegen die Natur auf einen jüdischen Stamm gepfropft«. (Vergl. Römer XI, 24.)
2) Ich sage 500 Jahre, denn über die Identität des Logos und des Nus siehe
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