Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.Die Entstehung einer neuen Welt. Werke; hat er Recht, so werden wir auch innerhalb des bunt wechseln-den wirtschaftlichen Lebens am meisten zur Aufhellung von Vergangen- heit und Gegenwart beitragen, wenn es uns gelingt, einen in dieser Beziehung grundlegenden Charakterzug des germanischen Menschen nachzuweisen; denn die Werke wechseln je nach den Umständen, der Mensch aber bleibt derselbe, und die Geschichte einer Menschen- art wirkt aufklärend, nicht durch die Gliederung in angebliche Zeit- alter, die immer das Äussere betreffen, sondern durch den Nachweis der strengen Kontinuität. Sobald mir die Wesensgleichheit mit meinen Ahnen vor Augen geführt wird, verstehe ich ihre Handlungen aus den meinen, und die meinen erhalten wiederum durch jene eine ganz neue Färbung, denn sie verlieren den beängstigenden Schein eines willkürlichen Entschlüssen unterworfenen Nochniedagewesenen und können nunmehr mit philosophischer Ruhe als altbekannte, stets wiederkehrende Phänomene untersucht werden. Hier erst fassen wir Fuss auf einem wirklich wissenschaftlichen Standpunkt: moralisch wird die Autonomie der Individualität im Gegensatz zum allgemeinen Menschheitswahn betont, geschichtlich tritt die Notwendigkeit (d. h. die notwendige Handlungsweise bestimmter Menschen) in ihre Rechte als gesetzgebende Naturmacht. Betrachten wir nun die Germanen vom Beginn an, so finden 1) So hätte Goethe sie genannt; siehe die Erläuterung zu dem aphoristischen
Aufsatz, die Natur (in den meisten Ausgaben das allerletzte Blatt des letzten Bandes). Die Entstehung einer neuen Welt. Werke; hat er Recht, so werden wir auch innerhalb des bunt wechseln-den wirtschaftlichen Lebens am meisten zur Aufhellung von Vergangen- heit und Gegenwart beitragen, wenn es uns gelingt, einen in dieser Beziehung grundlegenden Charakterzug des germanischen Menschen nachzuweisen; denn die Werke wechseln je nach den Umständen, der Mensch aber bleibt derselbe, und die Geschichte einer Menschen- art wirkt aufklärend, nicht durch die Gliederung in angebliche Zeit- alter, die immer das Äussere betreffen, sondern durch den Nachweis der strengen Kontinuität. Sobald mir die Wesensgleichheit mit meinen Ahnen vor Augen geführt wird, verstehe ich ihre Handlungen aus den meinen, und die meinen erhalten wiederum durch jene eine ganz neue Färbung, denn sie verlieren den beängstigenden Schein eines willkürlichen Entschlüssen unterworfenen Nochniedagewesenen und können nunmehr mit philosophischer Ruhe als altbekannte, stets wiederkehrende Phänomene untersucht werden. Hier erst fassen wir Fuss auf einem wirklich wissenschaftlichen Standpunkt: moralisch wird die Autonomie der Individualität im Gegensatz zum allgemeinen Menschheitswahn betont, geschichtlich tritt die Notwendigkeit (d. h. die notwendige Handlungsweise bestimmter Menschen) in ihre Rechte als gesetzgebende Naturmacht. Betrachten wir nun die Germanen vom Beginn an, so finden 1) So hätte Goethe sie genannt; siehe die Erläuterung zu dem aphoristischen
Aufsatz, die Natur (in den meisten Ausgaben das allerletzte Blatt des letzten Bandes). <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0301" n="822"/><fw place="top" type="header">Die Entstehung einer neuen Welt.</fw><lb/> Werke; hat er Recht, so werden wir auch innerhalb des bunt wechseln-<lb/> den wirtschaftlichen Lebens am meisten zur Aufhellung von Vergangen-<lb/> heit und Gegenwart beitragen, wenn es uns gelingt, einen in dieser<lb/> Beziehung grundlegenden Charakterzug des germanischen Menschen<lb/> nachzuweisen; denn die Werke wechseln je nach den Umständen,<lb/> der Mensch aber bleibt derselbe, und die Geschichte einer Menschen-<lb/> art wirkt aufklärend, nicht durch die Gliederung in angebliche Zeit-<lb/> alter, die immer das Äussere betreffen, sondern durch den Nachweis<lb/> der strengen Kontinuität. Sobald mir die Wesensgleichheit mit meinen<lb/> Ahnen vor Augen geführt wird, verstehe ich ihre Handlungen aus<lb/> den meinen, und die meinen erhalten wiederum durch jene eine<lb/> ganz neue Färbung, denn sie verlieren den beängstigenden Schein<lb/> eines willkürlichen Entschlüssen unterworfenen Nochniedagewesenen<lb/> und können nunmehr mit philosophischer Ruhe als altbekannte, stets<lb/> wiederkehrende Phänomene untersucht werden. Hier erst fassen wir<lb/> Fuss auf einem wirklich wissenschaftlichen Standpunkt: moralisch<lb/> wird die Autonomie der Individualität im Gegensatz zum allgemeinen<lb/> Menschheitswahn betont, geschichtlich tritt die Notwendigkeit (d. h. die<lb/> notwendige Handlungsweise bestimmter Menschen) in ihre Rechte als<lb/> gesetzgebende Naturmacht.</p><lb/> <p>Betrachten wir nun die Germanen vom Beginn an, so finden<lb/> wir in ihnen zwei gegensätzliche und sich ergänzende Züge stark aus-<lb/> gesprochen: zunächst den heftigen Trieb des Individuums, sich herrisch<lb/> auf sich selbst zu stellen, sodann seinen Hang, durch treue Vereinigung<lb/> mit Anderen sich den Weg zu Unternehmungen zu bahnen, die nur<lb/> durch gemeinsames Wirken bewältigt werden können. In unserem<lb/> gegenwärtigen Leben umringt uns diese Doppelerscheinung auf allen<lb/> Seiten und die Fäden, die hüben und drüben gesponnen werden, bilden<lb/> ein wunderlich kunstvolles, fest geschlungenes Gewebe. Monopol und<lb/> Kooperation: das sind unstreitig die beiden Gegenpole unserer heutigen<lb/> wirtschaftlichen Lage und Niemand wird leugnen, dass sie unser ganzes<lb/> Jahrhundert beherrscht haben. Was ich nun behaupte, ist, dass dieses<lb/> Verhältnis, diese bestimmte Polarität,<note place="foot" n="1)">So hätte Goethe sie genannt; siehe die <hi rendition="#i">Erläuterung zu dem aphoristischen<lb/> Aufsatz, die Natur</hi> (in den meisten Ausgaben das allerletzte Blatt des letzten Bandes).</note> von Anfang an unsere wirt-<lb/> schaftlichen Zustände und ihre Entwickelung beherrscht hat, so dass,<lb/> trotz der Aufeinanderfolge nie wiederkehrender Lebensformen, wir,<lb/> dank dieser Einsicht, doch ein tiefes Verständnis für die Vergangenheit<lb/></p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [822/0301]
Die Entstehung einer neuen Welt.
Werke; hat er Recht, so werden wir auch innerhalb des bunt wechseln-
den wirtschaftlichen Lebens am meisten zur Aufhellung von Vergangen-
heit und Gegenwart beitragen, wenn es uns gelingt, einen in dieser
Beziehung grundlegenden Charakterzug des germanischen Menschen
nachzuweisen; denn die Werke wechseln je nach den Umständen,
der Mensch aber bleibt derselbe, und die Geschichte einer Menschen-
art wirkt aufklärend, nicht durch die Gliederung in angebliche Zeit-
alter, die immer das Äussere betreffen, sondern durch den Nachweis
der strengen Kontinuität. Sobald mir die Wesensgleichheit mit meinen
Ahnen vor Augen geführt wird, verstehe ich ihre Handlungen aus
den meinen, und die meinen erhalten wiederum durch jene eine
ganz neue Färbung, denn sie verlieren den beängstigenden Schein
eines willkürlichen Entschlüssen unterworfenen Nochniedagewesenen
und können nunmehr mit philosophischer Ruhe als altbekannte, stets
wiederkehrende Phänomene untersucht werden. Hier erst fassen wir
Fuss auf einem wirklich wissenschaftlichen Standpunkt: moralisch
wird die Autonomie der Individualität im Gegensatz zum allgemeinen
Menschheitswahn betont, geschichtlich tritt die Notwendigkeit (d. h. die
notwendige Handlungsweise bestimmter Menschen) in ihre Rechte als
gesetzgebende Naturmacht.
Betrachten wir nun die Germanen vom Beginn an, so finden
wir in ihnen zwei gegensätzliche und sich ergänzende Züge stark aus-
gesprochen: zunächst den heftigen Trieb des Individuums, sich herrisch
auf sich selbst zu stellen, sodann seinen Hang, durch treue Vereinigung
mit Anderen sich den Weg zu Unternehmungen zu bahnen, die nur
durch gemeinsames Wirken bewältigt werden können. In unserem
gegenwärtigen Leben umringt uns diese Doppelerscheinung auf allen
Seiten und die Fäden, die hüben und drüben gesponnen werden, bilden
ein wunderlich kunstvolles, fest geschlungenes Gewebe. Monopol und
Kooperation: das sind unstreitig die beiden Gegenpole unserer heutigen
wirtschaftlichen Lage und Niemand wird leugnen, dass sie unser ganzes
Jahrhundert beherrscht haben. Was ich nun behaupte, ist, dass dieses
Verhältnis, diese bestimmte Polarität, 1) von Anfang an unsere wirt-
schaftlichen Zustände und ihre Entwickelung beherrscht hat, so dass,
trotz der Aufeinanderfolge nie wiederkehrender Lebensformen, wir,
dank dieser Einsicht, doch ein tiefes Verständnis für die Vergangenheit
1) So hätte Goethe sie genannt; siehe die Erläuterung zu dem aphoristischen
Aufsatz, die Natur (in den meisten Ausgaben das allerletzte Blatt des letzten Bandes).
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