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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Wirtschaft.
gewesen; fast fünf Jahrhunderte lang spielt er in der Politik Europa's
eine bedeutende Rolle, von der Empörung der lombardischen Städte
gegen ihre Grafen und Könige an, bis zu den vielen Bauernorganisationen
und -Aufständen in allen Ländern Europa's. Wie Lamprecht an einer
Stelle aufmerksam macht: die Organisation der Landwirtschaft war bei
uns von Hause aus "kommunistisch-sozialistisch". Echter Kommu-
nismus wird auch immer im Landbau wurzeln müssen, denn hier erst,
bei der Produktion der unentbehrlichen Nahrungsmittel, erhält Koope-
ration umfassende und womöglich staatsgestaltende Bedeutung. Darum
waren die Jahrhunderte bis zum 16. sozialistischer als das unsere, trotz des
vielen sozialistischen Geredes und Theoretisierens, das wir haben erleben
müssen. Doch auch dieses Theoretisieren ist nichts weniger als neu; um
nur ein einziges älteres Beispiel zu nennen, gleich der Roman de la Rose,
aus dem Jahrhundert des Erwachens (dem 13.), und lange Zeit hin-
durch das am weitesten verbreitete Buch von Europa, greift alles Privat-
eigentum an; und schon in den allerersten Jahren des 16. Jahrhunderts
(1516) erhielt der theoretische Sozialismus in Sir Thomas More's Utopia
einen so wohldurchdachten Ausdruck, dass alles, was seither hinzuge-
kommen ist, gewissermassen nur das theoretische Anbauen und Aus-
bauen des von More deutlich abgesteckten Gebietes ist.1) Und zwar

1) Dies giebt sogar der sozialistische Führer Kautsky zu (Die Geschichte des
Sozialismus,
1895, I, 468), indem er meint, More's Auffassung sei bis zum Jahre
1847, d. h. bis zu Marx und Engels, für den Sozialismus massgebend gewesen.
Nun ist es aber klar, dass es wenig Gemeinsames geben kann zwischen den Ge-
danken der beiden genannten hochbegabten Juden, welche manche der besten
Ideen ihres Volkes aus Asien nach Europa herüberzupflanzen und modernen Lebens-
bedingungen anzupassen versuchten, und denen eines der exquisitesten Gelehrten,
welche Nordgermanien jemals hervorbrachte, einer durch und durch aristokratischen,
unendlich feinfühligen Natur, eines Geistes, dessen unerschöpflicher Humor seinen
Busenfreund Erasmus zum "Lob der Narrheit" anregte, eines Mannes, der in öffent-
lichen Ämtern -- zuletzt als speaker des Parlamentes und als Schatzkanzler --
grosse Welterfahrung gesammelt hatte, und nunmehr freimütig und ironisch (und
mit vollem Recht) die Gesellschaft seiner Zeit als "eine Verschwörung der Reichen
gegen die Armen" geisselt, und einem anderen, auf echt germanischen und echt
christlichen Grundlagen zu errichtenden Staat entgegensieht. Wenn More das Wort
Utopia, d. h. "Nirgendswo", für seinen Zukunftsstaat erfand, so war das auch
wieder ein humoristischer Zug; denn in Wirklichkeit fasst er das gesellschaftliche
Problem durchaus praktisch an, weit praktischer als manche sozialistische Doktrinäre
des heutigen Tages. Er fordert: rationelle Bewirtschaftung des Bodens, Hygiene
des Körpers und der Wohnung, Reform des Strafsystems, Verminderung der Arbeits-
stunden, Bildung und edle Zerstreuung einem Jeden zugänglich gemacht -- -- --
Manches ist inzwischen bei uns eingeführt worden; in den übrigen Punkten hat

Wirtschaft.
gewesen; fast fünf Jahrhunderte lang spielt er in der Politik Europa’s
eine bedeutende Rolle, von der Empörung der lombardischen Städte
gegen ihre Grafen und Könige an, bis zu den vielen Bauernorganisationen
und -Aufständen in allen Ländern Europa’s. Wie Lamprecht an einer
Stelle aufmerksam macht: die Organisation der Landwirtschaft war bei
uns von Hause aus »kommunistisch-sozialistisch«. Echter Kommu-
nismus wird auch immer im Landbau wurzeln müssen, denn hier erst,
bei der Produktion der unentbehrlichen Nahrungsmittel, erhält Koope-
ration umfassende und womöglich staatsgestaltende Bedeutung. Darum
waren die Jahrhunderte bis zum 16. sozialistischer als das unsere, trotz des
vielen sozialistischen Geredes und Theoretisierens, das wir haben erleben
müssen. Doch auch dieses Theoretisieren ist nichts weniger als neu; um
nur ein einziges älteres Beispiel zu nennen, gleich der Roman de la Rose,
aus dem Jahrhundert des Erwachens (dem 13.), und lange Zeit hin-
durch das am weitesten verbreitete Buch von Europa, greift alles Privat-
eigentum an; und schon in den allerersten Jahren des 16. Jahrhunderts
(1516) erhielt der theoretische Sozialismus in Sir Thomas More’s Utopia
einen so wohldurchdachten Ausdruck, dass alles, was seither hinzuge-
kommen ist, gewissermassen nur das theoretische Anbauen und Aus-
bauen des von More deutlich abgesteckten Gebietes ist.1) Und zwar

1) Dies giebt sogar der sozialistische Führer Kautsky zu (Die Geschichte des
Sozialismus,
1895, I, 468), indem er meint, More’s Auffassung sei bis zum Jahre
1847, d. h. bis zu Marx und Engels, für den Sozialismus massgebend gewesen.
Nun ist es aber klar, dass es wenig Gemeinsames geben kann zwischen den Ge-
danken der beiden genannten hochbegabten Juden, welche manche der besten
Ideen ihres Volkes aus Asien nach Europa herüberzupflanzen und modernen Lebens-
bedingungen anzupassen versuchten, und denen eines der exquisitesten Gelehrten,
welche Nordgermanien jemals hervorbrachte, einer durch und durch aristokratischen,
unendlich feinfühligen Natur, eines Geistes, dessen unerschöpflicher Humor seinen
Busenfreund Erasmus zum »Lob der Narrheit« anregte, eines Mannes, der in öffent-
lichen Ämtern — zuletzt als speaker des Parlamentes und als Schatzkanzler —
grosse Welterfahrung gesammelt hatte, und nunmehr freimütig und ironisch (und
mit vollem Recht) die Gesellschaft seiner Zeit als »eine Verschwörung der Reichen
gegen die Armen« geisselt, und einem anderen, auf echt germanischen und echt
christlichen Grundlagen zu errichtenden Staat entgegensieht. Wenn More das Wort
Utopia, d. h. »Nirgendswo«, für seinen Zukunftsstaat erfand, so war das auch
wieder ein humoristischer Zug; denn in Wirklichkeit fasst er das gesellschaftliche
Problem durchaus praktisch an, weit praktischer als manche sozialistische Doktrinäre
des heutigen Tages. Er fordert: rationelle Bewirtschaftung des Bodens, Hygiene
des Körpers und der Wohnung, Reform des Strafsystems, Verminderung der Arbeits-
stunden, Bildung und edle Zerstreuung einem Jeden zugänglich gemacht — — —
Manches ist inzwischen bei uns eingeführt worden; in den übrigen Punkten hat
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[835/0314] Wirtschaft. gewesen; fast fünf Jahrhunderte lang spielt er in der Politik Europa’s eine bedeutende Rolle, von der Empörung der lombardischen Städte gegen ihre Grafen und Könige an, bis zu den vielen Bauernorganisationen und -Aufständen in allen Ländern Europa’s. Wie Lamprecht an einer Stelle aufmerksam macht: die Organisation der Landwirtschaft war bei uns von Hause aus »kommunistisch-sozialistisch«. Echter Kommu- nismus wird auch immer im Landbau wurzeln müssen, denn hier erst, bei der Produktion der unentbehrlichen Nahrungsmittel, erhält Koope- ration umfassende und womöglich staatsgestaltende Bedeutung. Darum waren die Jahrhunderte bis zum 16. sozialistischer als das unsere, trotz des vielen sozialistischen Geredes und Theoretisierens, das wir haben erleben müssen. Doch auch dieses Theoretisieren ist nichts weniger als neu; um nur ein einziges älteres Beispiel zu nennen, gleich der Roman de la Rose, aus dem Jahrhundert des Erwachens (dem 13.), und lange Zeit hin- durch das am weitesten verbreitete Buch von Europa, greift alles Privat- eigentum an; und schon in den allerersten Jahren des 16. Jahrhunderts (1516) erhielt der theoretische Sozialismus in Sir Thomas More’s Utopia einen so wohldurchdachten Ausdruck, dass alles, was seither hinzuge- kommen ist, gewissermassen nur das theoretische Anbauen und Aus- bauen des von More deutlich abgesteckten Gebietes ist. 1) Und zwar 1) Dies giebt sogar der sozialistische Führer Kautsky zu (Die Geschichte des Sozialismus, 1895, I, 468), indem er meint, More’s Auffassung sei bis zum Jahre 1847, d. h. bis zu Marx und Engels, für den Sozialismus massgebend gewesen. Nun ist es aber klar, dass es wenig Gemeinsames geben kann zwischen den Ge- danken der beiden genannten hochbegabten Juden, welche manche der besten Ideen ihres Volkes aus Asien nach Europa herüberzupflanzen und modernen Lebens- bedingungen anzupassen versuchten, und denen eines der exquisitesten Gelehrten, welche Nordgermanien jemals hervorbrachte, einer durch und durch aristokratischen, unendlich feinfühligen Natur, eines Geistes, dessen unerschöpflicher Humor seinen Busenfreund Erasmus zum »Lob der Narrheit« anregte, eines Mannes, der in öffent- lichen Ämtern — zuletzt als speaker des Parlamentes und als Schatzkanzler — grosse Welterfahrung gesammelt hatte, und nunmehr freimütig und ironisch (und mit vollem Recht) die Gesellschaft seiner Zeit als »eine Verschwörung der Reichen gegen die Armen« geisselt, und einem anderen, auf echt germanischen und echt christlichen Grundlagen zu errichtenden Staat entgegensieht. Wenn More das Wort Utopia, d. h. »Nirgendswo«, für seinen Zukunftsstaat erfand, so war das auch wieder ein humoristischer Zug; denn in Wirklichkeit fasst er das gesellschaftliche Problem durchaus praktisch an, weit praktischer als manche sozialistische Doktrinäre des heutigen Tages. Er fordert: rationelle Bewirtschaftung des Bodens, Hygiene des Körpers und der Wohnung, Reform des Strafsystems, Verminderung der Arbeits- stunden, Bildung und edle Zerstreuung einem Jeden zugänglich gemacht — — — Manches ist inzwischen bei uns eingeführt worden; in den übrigen Punkten hat

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 835. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/314>, abgerufen am 22.11.2024.