Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

Bild:
<< vorherige Seite

Politik und Kirche.
Frauen gesehen hat und aus eigener Anschauung weiss, wie diese
arme Nation von ihrer Kirche geknechtet und geknebelt und (wie
der Engländer sagt) "geritten" wird, wie dort der Klerus jede indivi-
duelle Spontaneität in der Knospe knickt, wie er die krasse Ignoranz
begünstigt und den kindischen entwürdigenden Aberglauben und
Götzendienst systematisch grosszieht. Und dass es nicht der Glaube
an und für sich ist, ich meine, dass es nicht das Fürwahrhalten dieses
oder jenes Dogmas ist, sondern die Kirche als politische Organisation,
welche diese Wirkung ausübt, ersieht man daraus, dass dort, wo die
römische Kirche in freieren Ländern ihr Existenzrecht im Kampfe
mit anderen Kirchen behaupten muss, sie auch andere Formen an-
nimmt, geeignet, Männer zu befriedigen, die auf der höchsten Kultur-
stufe stehen. Man ersieht es noch besser daraus, dass dem lutherischen
wie auch den übrigen protestantischen Dogmengebäuden -- rein als
solchen -- keine sehr hohe Bedeutung zukommt. Der schwache Punkt
war bei Luther seine Theologie;1) wäre sie seine Stärke gewesen, er
hätte zu seinem politischen Werke nicht getaugt, seine Kirche auch
nicht. Rom ist ein politisches System; ihm musste ein anderes poli-
tisches System entgegengestellt werden; sonst blieb es ja bei dem
alten Kampf, der schon anderthalb Jahrtausende gewährt hatte, zwischen
Rechtgläubigkeit und Irrgläubigkeit. Wohl mag Heinrich von Treitschke
den Calvinismus "den besten Protestantismus" nennen, wenn es ihm
beliebt;2) Calvin war ja in der That der eigentliche rein religiöse
Kirchenreformator und der Mann der unerbittlichen Logik; denn nichts
folgt klarer aus der konsequent durchgeführten Lehre von der Prä-
destination als die Geringfügigkeit kirchlicher Handlungen und die
Nichtigkeit priesterlicher Ansprüche; doch sehen wir, dass diese Lehre
Calvin's viel zu rein theologisch war, um die römische Welt aus den
Angeln zu heben; dazu war sie ausserdem zu ausschliesslich rationa-
listisch. Anders ging Luther, der deutschpatriotische Politiker, zu
Werke. Nicht dogmatische Tüfteleien füllten sein Denken aus;
vielmehr kamen diese erst in zweiter Reihe; voran ging die Nation:
"Für meine Deutschen bin ich geboren, ihnen will ich dienen!" --
so rief der prächtige Mann. Die Vaterlandsliebe war in ihm das Un-
bedingte, die Gottesgelahrtheit das Bedingte, in welchem er die Mönchs-

1) Harnack: Dogmengeschichte, Grundriss, 2. Aufl. S. 376, schreibt: "Luther
beschenkte seine Kirche mit einer Christologie, die an scholastischem Widersinn
die thomistische weit hinter sich liess."
2) Historische und politische Aufsätze, 5. Aufl., II., 410.

Politik und Kirche.
Frauen gesehen hat und aus eigener Anschauung weiss, wie diese
arme Nation von ihrer Kirche geknechtet und geknebelt und (wie
der Engländer sagt) »geritten« wird, wie dort der Klerus jede indivi-
duelle Spontaneität in der Knospe knickt, wie er die krasse Ignoranz
begünstigt und den kindischen entwürdigenden Aberglauben und
Götzendienst systematisch grosszieht. Und dass es nicht der Glaube
an und für sich ist, ich meine, dass es nicht das Fürwahrhalten dieses
oder jenes Dogmas ist, sondern die Kirche als politische Organisation,
welche diese Wirkung ausübt, ersieht man daraus, dass dort, wo die
römische Kirche in freieren Ländern ihr Existenzrecht im Kampfe
mit anderen Kirchen behaupten muss, sie auch andere Formen an-
nimmt, geeignet, Männer zu befriedigen, die auf der höchsten Kultur-
stufe stehen. Man ersieht es noch besser daraus, dass dem lutherischen
wie auch den übrigen protestantischen Dogmengebäuden — rein als
solchen — keine sehr hohe Bedeutung zukommt. Der schwache Punkt
war bei Luther seine Theologie;1) wäre sie seine Stärke gewesen, er
hätte zu seinem politischen Werke nicht getaugt, seine Kirche auch
nicht. Rom ist ein politisches System; ihm musste ein anderes poli-
tisches System entgegengestellt werden; sonst blieb es ja bei dem
alten Kampf, der schon anderthalb Jahrtausende gewährt hatte, zwischen
Rechtgläubigkeit und Irrgläubigkeit. Wohl mag Heinrich von Treitschke
den Calvinismus »den besten Protestantismus« nennen, wenn es ihm
beliebt;2) Calvin war ja in der That der eigentliche rein religiöse
Kirchenreformator und der Mann der unerbittlichen Logik; denn nichts
folgt klarer aus der konsequent durchgeführten Lehre von der Prä-
destination als die Geringfügigkeit kirchlicher Handlungen und die
Nichtigkeit priesterlicher Ansprüche; doch sehen wir, dass diese Lehre
Calvin’s viel zu rein theologisch war, um die römische Welt aus den
Angeln zu heben; dazu war sie ausserdem zu ausschliesslich rationa-
listisch. Anders ging Luther, der deutschpatriotische Politiker, zu
Werke. Nicht dogmatische Tüfteleien füllten sein Denken aus;
vielmehr kamen diese erst in zweiter Reihe; voran ging die Nation:
»Für meine Deutschen bin ich geboren, ihnen will ich dienen!« —
so rief der prächtige Mann. Die Vaterlandsliebe war in ihm das Un-
bedingte, die Gottesgelahrtheit das Bedingte, in welchem er die Mönchs-

1) Harnack: Dogmengeschichte, Grundriss, 2. Aufl. S. 376, schreibt: »Luther
beschenkte seine Kirche mit einer Christologie, die an scholastischem Widersinn
die thomistische weit hinter sich liess.«
2) Historische und politische Aufsätze, 5. Aufl., II., 410.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0324" n="845"/><fw place="top" type="header">Politik und Kirche.</fw><lb/>
Frauen gesehen hat und aus eigener Anschauung weiss, wie diese<lb/>
arme Nation von ihrer Kirche geknechtet und geknebelt und (wie<lb/>
der Engländer sagt) »geritten« wird, wie dort der Klerus jede indivi-<lb/>
duelle Spontaneität in der Knospe knickt, wie er die krasse Ignoranz<lb/>
begünstigt und den kindischen entwürdigenden Aberglauben und<lb/>
Götzendienst systematisch grosszieht. Und dass es nicht der Glaube<lb/>
an und für sich ist, ich meine, dass es nicht das Fürwahrhalten dieses<lb/>
oder jenes Dogmas ist, sondern die Kirche als politische Organisation,<lb/>
welche diese Wirkung ausübt, ersieht man daraus, dass dort, wo die<lb/>
römische Kirche in freieren Ländern ihr Existenzrecht im Kampfe<lb/>
mit anderen Kirchen behaupten muss, sie auch andere Formen an-<lb/>
nimmt, geeignet, Männer zu befriedigen, die auf der höchsten Kultur-<lb/>
stufe stehen. Man ersieht es noch besser daraus, dass dem lutherischen<lb/>
wie auch den übrigen protestantischen Dogmengebäuden &#x2014; rein als<lb/>
solchen &#x2014; keine sehr hohe Bedeutung zukommt. Der schwache Punkt<lb/>
war bei Luther seine Theologie;<note place="foot" n="1)">Harnack: <hi rendition="#i">Dogmengeschichte,</hi> Grundriss, 2. Aufl. S. 376, schreibt: »Luther<lb/>
beschenkte seine Kirche mit einer Christologie, die an scholastischem Widersinn<lb/>
die thomistische weit hinter sich liess.«</note> wäre sie seine Stärke gewesen, er<lb/>
hätte zu seinem politischen Werke nicht getaugt, seine Kirche auch<lb/>
nicht. Rom ist ein politisches System; ihm musste ein anderes poli-<lb/>
tisches System entgegengestellt werden; sonst blieb es ja bei dem<lb/>
alten Kampf, der schon anderthalb Jahrtausende gewährt hatte, zwischen<lb/>
Rechtgläubigkeit und Irrgläubigkeit. Wohl mag Heinrich von Treitschke<lb/>
den Calvinismus »den besten Protestantismus« nennen, wenn es ihm<lb/>
beliebt;<note place="foot" n="2)"><hi rendition="#i">Historische und politische Aufsätze,</hi> 5. Aufl., II., 410.</note> Calvin war ja in der That der eigentliche rein religiöse<lb/>
Kirchenreformator und der Mann der unerbittlichen Logik; denn nichts<lb/>
folgt klarer aus der konsequent durchgeführten Lehre von der Prä-<lb/>
destination als die Geringfügigkeit kirchlicher Handlungen und die<lb/>
Nichtigkeit priesterlicher Ansprüche; doch sehen wir, dass diese Lehre<lb/>
Calvin&#x2019;s viel zu rein theologisch war, um die römische Welt aus den<lb/>
Angeln zu heben; dazu war sie ausserdem zu ausschliesslich rationa-<lb/>
listisch. Anders ging Luther, der deutschpatriotische Politiker, zu<lb/>
Werke. Nicht dogmatische Tüfteleien füllten sein Denken aus;<lb/>
vielmehr kamen diese erst in zweiter Reihe; voran ging die Nation:<lb/>
»Für meine Deutschen bin ich geboren, ihnen will ich dienen!« &#x2014;<lb/>
so rief der prächtige Mann. Die Vaterlandsliebe war in ihm das Un-<lb/>
bedingte, die Gottesgelahrtheit das Bedingte, in welchem er die Mönchs-<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[845/0324] Politik und Kirche. Frauen gesehen hat und aus eigener Anschauung weiss, wie diese arme Nation von ihrer Kirche geknechtet und geknebelt und (wie der Engländer sagt) »geritten« wird, wie dort der Klerus jede indivi- duelle Spontaneität in der Knospe knickt, wie er die krasse Ignoranz begünstigt und den kindischen entwürdigenden Aberglauben und Götzendienst systematisch grosszieht. Und dass es nicht der Glaube an und für sich ist, ich meine, dass es nicht das Fürwahrhalten dieses oder jenes Dogmas ist, sondern die Kirche als politische Organisation, welche diese Wirkung ausübt, ersieht man daraus, dass dort, wo die römische Kirche in freieren Ländern ihr Existenzrecht im Kampfe mit anderen Kirchen behaupten muss, sie auch andere Formen an- nimmt, geeignet, Männer zu befriedigen, die auf der höchsten Kultur- stufe stehen. Man ersieht es noch besser daraus, dass dem lutherischen wie auch den übrigen protestantischen Dogmengebäuden — rein als solchen — keine sehr hohe Bedeutung zukommt. Der schwache Punkt war bei Luther seine Theologie; 1) wäre sie seine Stärke gewesen, er hätte zu seinem politischen Werke nicht getaugt, seine Kirche auch nicht. Rom ist ein politisches System; ihm musste ein anderes poli- tisches System entgegengestellt werden; sonst blieb es ja bei dem alten Kampf, der schon anderthalb Jahrtausende gewährt hatte, zwischen Rechtgläubigkeit und Irrgläubigkeit. Wohl mag Heinrich von Treitschke den Calvinismus »den besten Protestantismus« nennen, wenn es ihm beliebt; 2) Calvin war ja in der That der eigentliche rein religiöse Kirchenreformator und der Mann der unerbittlichen Logik; denn nichts folgt klarer aus der konsequent durchgeführten Lehre von der Prä- destination als die Geringfügigkeit kirchlicher Handlungen und die Nichtigkeit priesterlicher Ansprüche; doch sehen wir, dass diese Lehre Calvin’s viel zu rein theologisch war, um die römische Welt aus den Angeln zu heben; dazu war sie ausserdem zu ausschliesslich rationa- listisch. Anders ging Luther, der deutschpatriotische Politiker, zu Werke. Nicht dogmatische Tüfteleien füllten sein Denken aus; vielmehr kamen diese erst in zweiter Reihe; voran ging die Nation: »Für meine Deutschen bin ich geboren, ihnen will ich dienen!« — so rief der prächtige Mann. Die Vaterlandsliebe war in ihm das Un- bedingte, die Gottesgelahrtheit das Bedingte, in welchem er die Mönchs- 1) Harnack: Dogmengeschichte, Grundriss, 2. Aufl. S. 376, schreibt: »Luther beschenkte seine Kirche mit einer Christologie, die an scholastischem Widersinn die thomistische weit hinter sich liess.« 2) Historische und politische Aufsätze, 5. Aufl., II., 410.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/324
Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 845. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/324>, abgerufen am 21.11.2024.