Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

Bild:
<< vorherige Seite

Politik und Kirche.
in unserem Jahrhundert nach dem Vatikanischen Konzil wieder erlebten:
die erdrückende Macht des Universalismus siegte; einer nach dem andern
brachten selbst die Edelsten das Opfer ihrer Persönlichkeit, ihrer Wahr-
haftigkeit auf seinem Altar dar. Der echte Katholicismus wurde ebenso
ausgerottet wie der Protestantismus ausgerottet worden war. Damit
waren die Zeiten für die Revolution reif; denn sonst gab es für Frank-
reich nur noch -- wie vorhin angedeutet -- spanisches Verrotten.
Dazu besass aber dies begabte Volk doch noch zuviel Lebenskraft, und
so erhob es sich mit der sprichwörtlichen Wut des lange geduldigen
Germanen, doch bar jedes moralischen Hintergrundes und ohne einen
einzigen wirklich grossen Mann. "Nie wurde ein grosses Werk von
so kleinen Menschen vollbracht," ruft Carlyle in Bezug auf die fran-
zösische Revolution aus.1) Und man werfe nur nicht ein, dass ich die
wirtschaftliche Lage unbeachtet lasse; sie ist ja allbekannt, und auch
ich schätze ihren Einfluss nicht gering; doch bietet die Geschichte kein
einziges Beispiel einer mächtigen Empörung, welche einzig durch wirt-
schaftliche Zustände bedingt gewesen wäre; der Mensch kann fast
jeden Grad des Elendes ertragen, und je elender er ist, um so schwächer
ist er; darum haben die grossen wirtschaftlichen Umwälzungen mit
ihren bitteren Härten (siehe S. 830), trotz einzelner Aufstände immer
einen verhältnismässig ruhigen Gang genommen, indem sich die Einen
nach und nach an neue, ungünstigere Verhältnisse, die Anderen sich
an neue Ansprüche gewöhnten. Die Geschichte bezeugt es ja auch:
nicht der arme bedrückte Bauer hat die französische Revolution ge-
macht, auch nicht der Pöbel, sondern die Bürgerschaft, ein Teil des
Adels und ein bedeutender Bruchteil der noch immer national gesinnten
Priesterschaft, und zwar diese alle aufgeweckt und angestachelt von
der geistigen Elite der Nation. Der Sprengstoff in der französischen
Revolution war "graue Hirnsubstanz". Und da ist es für ein richtiges
Verständnis vor Allem nötig, jenes innerste Rad der politischen Maschine
genau im Auge zu behalten, jenes Rad, bestimmt, das innerste Wesen
des einzelnen Menschen mit der Allgemeinheit in Verbindung zu setzen.
In einem entscheidenden Augenblick hängt hiervon alles ab. Ob man
Protestant oder Katholik oder sonst was sich nenne, mag gleichgültig
sein; es ist aber nicht gleichgültig, ob man am Morgen vor der Schlacht
"Ein' feste Burg ist unser Gott" singt, oder lascive Operettenlieder:
das sahen wir im Jahre 1870. Dem Franzosen war nun, als die

1) Critical Essays (Mirabeau).

Politik und Kirche.
in unserem Jahrhundert nach dem Vatikanischen Konzil wieder erlebten:
die erdrückende Macht des Universalismus siegte; einer nach dem andern
brachten selbst die Edelsten das Opfer ihrer Persönlichkeit, ihrer Wahr-
haftigkeit auf seinem Altar dar. Der echte Katholicismus wurde ebenso
ausgerottet wie der Protestantismus ausgerottet worden war. Damit
waren die Zeiten für die Revolution reif; denn sonst gab es für Frank-
reich nur noch — wie vorhin angedeutet — spanisches Verrotten.
Dazu besass aber dies begabte Volk doch noch zuviel Lebenskraft, und
so erhob es sich mit der sprichwörtlichen Wut des lange geduldigen
Germanen, doch bar jedes moralischen Hintergrundes und ohne einen
einzigen wirklich grossen Mann. »Nie wurde ein grosses Werk von
so kleinen Menschen vollbracht,« ruft Carlyle in Bezug auf die fran-
zösische Revolution aus.1) Und man werfe nur nicht ein, dass ich die
wirtschaftliche Lage unbeachtet lasse; sie ist ja allbekannt, und auch
ich schätze ihren Einfluss nicht gering; doch bietet die Geschichte kein
einziges Beispiel einer mächtigen Empörung, welche einzig durch wirt-
schaftliche Zustände bedingt gewesen wäre; der Mensch kann fast
jeden Grad des Elendes ertragen, und je elender er ist, um so schwächer
ist er; darum haben die grossen wirtschaftlichen Umwälzungen mit
ihren bitteren Härten (siehe S. 830), trotz einzelner Aufstände immer
einen verhältnismässig ruhigen Gang genommen, indem sich die Einen
nach und nach an neue, ungünstigere Verhältnisse, die Anderen sich
an neue Ansprüche gewöhnten. Die Geschichte bezeugt es ja auch:
nicht der arme bedrückte Bauer hat die französische Revolution ge-
macht, auch nicht der Pöbel, sondern die Bürgerschaft, ein Teil des
Adels und ein bedeutender Bruchteil der noch immer national gesinnten
Priesterschaft, und zwar diese alle aufgeweckt und angestachelt von
der geistigen Elite der Nation. Der Sprengstoff in der französischen
Revolution war »graue Hirnsubstanz«. Und da ist es für ein richtiges
Verständnis vor Allem nötig, jenes innerste Rad der politischen Maschine
genau im Auge zu behalten, jenes Rad, bestimmt, das innerste Wesen
des einzelnen Menschen mit der Allgemeinheit in Verbindung zu setzen.
In einem entscheidenden Augenblick hängt hiervon alles ab. Ob man
Protestant oder Katholik oder sonst was sich nenne, mag gleichgültig
sein; es ist aber nicht gleichgültig, ob man am Morgen vor der Schlacht
»Ein’ feste Burg ist unser Gott« singt, oder lascive Operettenlieder:
das sahen wir im Jahre 1870. Dem Franzosen war nun, als die

1) Critical Essays (Mirabeau).
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0330" n="851"/><fw place="top" type="header">Politik und Kirche.</fw><lb/>
in unserem Jahrhundert nach dem Vatikanischen Konzil wieder erlebten:<lb/>
die erdrückende Macht des Universalismus siegte; einer nach dem andern<lb/>
brachten selbst die Edelsten das Opfer ihrer Persönlichkeit, ihrer Wahr-<lb/>
haftigkeit auf seinem Altar dar. Der echte Katholicismus wurde ebenso<lb/>
ausgerottet wie der Protestantismus ausgerottet worden war. Damit<lb/>
waren die Zeiten für die Revolution reif; denn sonst gab es für Frank-<lb/>
reich nur noch &#x2014; wie vorhin angedeutet &#x2014; spanisches Verrotten.<lb/>
Dazu besass aber dies begabte Volk doch noch zuviel Lebenskraft, und<lb/>
so erhob es sich mit der sprichwörtlichen Wut des lange geduldigen<lb/>
Germanen, doch bar jedes moralischen Hintergrundes und ohne einen<lb/>
einzigen wirklich grossen Mann. »Nie wurde ein grosses Werk von<lb/>
so kleinen Menschen vollbracht,« ruft Carlyle in Bezug auf die fran-<lb/>
zösische Revolution aus.<note place="foot" n="1)"><hi rendition="#i">Critical Essays</hi> (Mirabeau).</note> Und man werfe nur nicht ein, dass ich die<lb/>
wirtschaftliche Lage unbeachtet lasse; sie ist ja allbekannt, und auch<lb/>
ich schätze ihren Einfluss nicht gering; doch bietet die Geschichte kein<lb/>
einziges Beispiel einer mächtigen Empörung, welche einzig durch wirt-<lb/>
schaftliche Zustände bedingt gewesen wäre; der Mensch kann fast<lb/>
jeden Grad des Elendes ertragen, und je elender er ist, um so schwächer<lb/>
ist er; darum haben die grossen wirtschaftlichen Umwälzungen mit<lb/>
ihren bitteren Härten (siehe S. 830), trotz einzelner Aufstände immer<lb/>
einen verhältnismässig ruhigen Gang genommen, indem sich die Einen<lb/>
nach und nach an neue, ungünstigere Verhältnisse, die Anderen sich<lb/>
an neue Ansprüche gewöhnten. Die Geschichte bezeugt es ja auch:<lb/>
nicht der arme bedrückte Bauer hat die französische Revolution ge-<lb/>
macht, auch nicht der Pöbel, sondern die Bürgerschaft, ein Teil des<lb/>
Adels und ein bedeutender Bruchteil der noch immer national gesinnten<lb/>
Priesterschaft, und zwar diese alle aufgeweckt und angestachelt von<lb/>
der geistigen Elite der Nation. Der Sprengstoff in der französischen<lb/>
Revolution war »graue Hirnsubstanz«. Und da ist es für ein richtiges<lb/>
Verständnis vor Allem nötig, jenes innerste Rad der politischen Maschine<lb/>
genau im Auge zu behalten, jenes Rad, bestimmt, das innerste Wesen<lb/>
des einzelnen Menschen mit der Allgemeinheit in Verbindung zu setzen.<lb/>
In einem entscheidenden Augenblick hängt hiervon alles ab. Ob man<lb/>
Protestant oder Katholik oder sonst was sich nenne, mag gleichgültig<lb/>
sein; es ist aber nicht gleichgültig, ob man am Morgen vor der Schlacht<lb/>
»Ein&#x2019; feste Burg ist unser Gott« singt, oder lascive Operettenlieder:<lb/>
das sahen wir im Jahre 1870. Dem Franzosen war nun, als die<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[851/0330] Politik und Kirche. in unserem Jahrhundert nach dem Vatikanischen Konzil wieder erlebten: die erdrückende Macht des Universalismus siegte; einer nach dem andern brachten selbst die Edelsten das Opfer ihrer Persönlichkeit, ihrer Wahr- haftigkeit auf seinem Altar dar. Der echte Katholicismus wurde ebenso ausgerottet wie der Protestantismus ausgerottet worden war. Damit waren die Zeiten für die Revolution reif; denn sonst gab es für Frank- reich nur noch — wie vorhin angedeutet — spanisches Verrotten. Dazu besass aber dies begabte Volk doch noch zuviel Lebenskraft, und so erhob es sich mit der sprichwörtlichen Wut des lange geduldigen Germanen, doch bar jedes moralischen Hintergrundes und ohne einen einzigen wirklich grossen Mann. »Nie wurde ein grosses Werk von so kleinen Menschen vollbracht,« ruft Carlyle in Bezug auf die fran- zösische Revolution aus. 1) Und man werfe nur nicht ein, dass ich die wirtschaftliche Lage unbeachtet lasse; sie ist ja allbekannt, und auch ich schätze ihren Einfluss nicht gering; doch bietet die Geschichte kein einziges Beispiel einer mächtigen Empörung, welche einzig durch wirt- schaftliche Zustände bedingt gewesen wäre; der Mensch kann fast jeden Grad des Elendes ertragen, und je elender er ist, um so schwächer ist er; darum haben die grossen wirtschaftlichen Umwälzungen mit ihren bitteren Härten (siehe S. 830), trotz einzelner Aufstände immer einen verhältnismässig ruhigen Gang genommen, indem sich die Einen nach und nach an neue, ungünstigere Verhältnisse, die Anderen sich an neue Ansprüche gewöhnten. Die Geschichte bezeugt es ja auch: nicht der arme bedrückte Bauer hat die französische Revolution ge- macht, auch nicht der Pöbel, sondern die Bürgerschaft, ein Teil des Adels und ein bedeutender Bruchteil der noch immer national gesinnten Priesterschaft, und zwar diese alle aufgeweckt und angestachelt von der geistigen Elite der Nation. Der Sprengstoff in der französischen Revolution war »graue Hirnsubstanz«. Und da ist es für ein richtiges Verständnis vor Allem nötig, jenes innerste Rad der politischen Maschine genau im Auge zu behalten, jenes Rad, bestimmt, das innerste Wesen des einzelnen Menschen mit der Allgemeinheit in Verbindung zu setzen. In einem entscheidenden Augenblick hängt hiervon alles ab. Ob man Protestant oder Katholik oder sonst was sich nenne, mag gleichgültig sein; es ist aber nicht gleichgültig, ob man am Morgen vor der Schlacht »Ein’ feste Burg ist unser Gott« singt, oder lascive Operettenlieder: das sahen wir im Jahre 1870. Dem Franzosen war nun, als die 1) Critical Essays (Mirabeau).

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/330
Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 851. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/330>, abgerufen am 16.06.2024.