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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.
gläubigen, doch unabhängigen katholischen Klerus Frankreich's. Hier
galt es, die von den frömmsten Königen der Vorzeit behauptete
nationale Unabhängigkeit der gallikanischen Kirche zu vernichten,
und zugleich die letzten Spuren des tief innerlichen, mystischen
Glaubens von Grund aus zu vertilgen, der so starke Wurzeln gerade
in der katholischen Kirche stets geschlagen hatte und nunmehr in
Jansen und seinen Nachfolgern zu einer weitreichenden moralischen
Kraft heranzuwachsen drohte. Auch dies gelang. Wer sich über die
wahren origines de la France contemporaine unterrichten will, kann
es auch, ohne Taine's umfangreiches Werk zu lesen; er braucht nur
die berühmte Bulle Unigenitus (1713) aufmerksam zu studieren, in
welcher nicht allein zahlreiche Sätze des Augustinus, sondern die grund-
legenden Lehren des Apostel Paulus als "häretisch" verdammt werden;
sodann nehme er ein beliebiges Geschichtswerk zur Hand und sehe,
auf welche Weise die Annahme dieser speziell auf Frankreich gemünzten
Bulle durchgesetzt wurde. Es ist ein Kampf des geistig beschränkten
Fanatismus, im Bunde mit dem absolut gewissenlosen politischen Ehr-
geiz gegen alles, was die französische katholische Kirche noch an
Gelehrsamkeit und Tugend enthielt. Die würdigsten Prälaten wurden
depossediert und somit ins Elend gestürzt; andere, sowie viele Theo-
logen der Sorbonne wurden einfach in die Bastille geworfen, mithin
ihre Stimme zum Schweigen gebracht; andere wiederum waren schwach,
sie gaben der politischen Pression und den Drohungen nach oder liessen
sich mit Geld und Prebenden kaufen.1) Trotzdem währte der Kampf
lange. In einem ergreifenden Protest appellierten die mutigen unter
den Bischöfen Frankreich's an ein allgemeines Konzil gegen eine Bulle,
welche, so sagten sie, "die festesten Grundlagen der christlichen Sitten-
lehre, ja das erste und grösste Gebot der Liebe Gottes zerstöre"; des-
gleichen that der Cardinal de Noailles, desgleichen die Pariser Universität
und die Sorbonne -- kurz, alles was in Frankreich denkfähig, gebildet
und ernst religiös gesinnt war.2) Doch es geschah damals, was wir

1) Von jeher war das Kaufen die beliebteste Taktik Rom's. Über die an
Luther geübten Bestechungsversuche findet man den authentischen Bericht in
Aleander's Brief an die Kurie vom 27. April 1521. Wie bei Eck und den Übrigen
durch Geldgeschenke, Pfründen u s. w. der Eifer für die heilige Sache warm ge-
halten wurde, kann man am selben Orte sehen, zugleich die Vorsicht, mit welcher
den Beschenkten "unbedingtes Stillschweigen" auferlegt wird (15. Mai 1521).
2) Man vergl. Döllinger und Reusch: Geschichte der Moralstreitigkeiten in der
römisch-katholischen Kirche
I., Abt. 1., Kap. 5., Abschn. 7. Cardinal de Noailles
nennt die Jesuiten immer kurzweg "die Vertreter der verderbten Moral".

Die Entstehung einer neuen Welt.
gläubigen, doch unabhängigen katholischen Klerus Frankreich’s. Hier
galt es, die von den frömmsten Königen der Vorzeit behauptete
nationale Unabhängigkeit der gallikanischen Kirche zu vernichten,
und zugleich die letzten Spuren des tief innerlichen, mystischen
Glaubens von Grund aus zu vertilgen, der so starke Wurzeln gerade
in der katholischen Kirche stets geschlagen hatte und nunmehr in
Jansen und seinen Nachfolgern zu einer weitreichenden moralischen
Kraft heranzuwachsen drohte. Auch dies gelang. Wer sich über die
wahren origines de la France contemporaine unterrichten will, kann
es auch, ohne Taine’s umfangreiches Werk zu lesen; er braucht nur
die berühmte Bulle Unigenitus (1713) aufmerksam zu studieren, in
welcher nicht allein zahlreiche Sätze des Augustinus, sondern die grund-
legenden Lehren des Apostel Paulus als »häretisch« verdammt werden;
sodann nehme er ein beliebiges Geschichtswerk zur Hand und sehe,
auf welche Weise die Annahme dieser speziell auf Frankreich gemünzten
Bulle durchgesetzt wurde. Es ist ein Kampf des geistig beschränkten
Fanatismus, im Bunde mit dem absolut gewissenlosen politischen Ehr-
geiz gegen alles, was die französische katholische Kirche noch an
Gelehrsamkeit und Tugend enthielt. Die würdigsten Prälaten wurden
depossediert und somit ins Elend gestürzt; andere, sowie viele Theo-
logen der Sorbonne wurden einfach in die Bastille geworfen, mithin
ihre Stimme zum Schweigen gebracht; andere wiederum waren schwach,
sie gaben der politischen Pression und den Drohungen nach oder liessen
sich mit Geld und Prebenden kaufen.1) Trotzdem währte der Kampf
lange. In einem ergreifenden Protest appellierten die mutigen unter
den Bischöfen Frankreich’s an ein allgemeines Konzil gegen eine Bulle,
welche, so sagten sie, »die festesten Grundlagen der christlichen Sitten-
lehre, ja das erste und grösste Gebot der Liebe Gottes zerstöre«; des-
gleichen that der Cardinal de Noailles, desgleichen die Pariser Universität
und die Sorbonne — kurz, alles was in Frankreich denkfähig, gebildet
und ernst religiös gesinnt war.2) Doch es geschah damals, was wir

1) Von jeher war das Kaufen die beliebteste Taktik Rom’s. Über die an
Luther geübten Bestechungsversuche findet man den authentischen Bericht in
Aleander’s Brief an die Kurie vom 27. April 1521. Wie bei Eck und den Übrigen
durch Geldgeschenke, Pfründen u s. w. der Eifer für die heilige Sache warm ge-
halten wurde, kann man am selben Orte sehen, zugleich die Vorsicht, mit welcher
den Beschenkten »unbedingtes Stillschweigen« auferlegt wird (15. Mai 1521).
2) Man vergl. Döllinger und Reusch: Geschichte der Moralstreitigkeiten in der
römisch-katholischen Kirche
I., Abt. 1., Kap. 5., Abschn. 7. Cardinal de Noailles
nennt die Jesuiten immer kurzweg »die Vertreter der verderbten Moral«.
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[850/0329] Die Entstehung einer neuen Welt. gläubigen, doch unabhängigen katholischen Klerus Frankreich’s. Hier galt es, die von den frömmsten Königen der Vorzeit behauptete nationale Unabhängigkeit der gallikanischen Kirche zu vernichten, und zugleich die letzten Spuren des tief innerlichen, mystischen Glaubens von Grund aus zu vertilgen, der so starke Wurzeln gerade in der katholischen Kirche stets geschlagen hatte und nunmehr in Jansen und seinen Nachfolgern zu einer weitreichenden moralischen Kraft heranzuwachsen drohte. Auch dies gelang. Wer sich über die wahren origines de la France contemporaine unterrichten will, kann es auch, ohne Taine’s umfangreiches Werk zu lesen; er braucht nur die berühmte Bulle Unigenitus (1713) aufmerksam zu studieren, in welcher nicht allein zahlreiche Sätze des Augustinus, sondern die grund- legenden Lehren des Apostel Paulus als »häretisch« verdammt werden; sodann nehme er ein beliebiges Geschichtswerk zur Hand und sehe, auf welche Weise die Annahme dieser speziell auf Frankreich gemünzten Bulle durchgesetzt wurde. Es ist ein Kampf des geistig beschränkten Fanatismus, im Bunde mit dem absolut gewissenlosen politischen Ehr- geiz gegen alles, was die französische katholische Kirche noch an Gelehrsamkeit und Tugend enthielt. Die würdigsten Prälaten wurden depossediert und somit ins Elend gestürzt; andere, sowie viele Theo- logen der Sorbonne wurden einfach in die Bastille geworfen, mithin ihre Stimme zum Schweigen gebracht; andere wiederum waren schwach, sie gaben der politischen Pression und den Drohungen nach oder liessen sich mit Geld und Prebenden kaufen. 1) Trotzdem währte der Kampf lange. In einem ergreifenden Protest appellierten die mutigen unter den Bischöfen Frankreich’s an ein allgemeines Konzil gegen eine Bulle, welche, so sagten sie, »die festesten Grundlagen der christlichen Sitten- lehre, ja das erste und grösste Gebot der Liebe Gottes zerstöre«; des- gleichen that der Cardinal de Noailles, desgleichen die Pariser Universität und die Sorbonne — kurz, alles was in Frankreich denkfähig, gebildet und ernst religiös gesinnt war. 2) Doch es geschah damals, was wir 1) Von jeher war das Kaufen die beliebteste Taktik Rom’s. Über die an Luther geübten Bestechungsversuche findet man den authentischen Bericht in Aleander’s Brief an die Kurie vom 27. April 1521. Wie bei Eck und den Übrigen durch Geldgeschenke, Pfründen u s. w. der Eifer für die heilige Sache warm ge- halten wurde, kann man am selben Orte sehen, zugleich die Vorsicht, mit welcher den Beschenkten »unbedingtes Stillschweigen« auferlegt wird (15. Mai 1521). 2) Man vergl. Döllinger und Reusch: Geschichte der Moralstreitigkeiten in der römisch-katholischen Kirche I., Abt. 1., Kap. 5., Abschn. 7. Cardinal de Noailles nennt die Jesuiten immer kurzweg »die Vertreter der verderbten Moral«.

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 850. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/329>, abgerufen am 21.11.2024.