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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Politik und Kirche.
Augen: dass diese ungeheuere Ausdehnung des kleinen aber kräftigen
Volkes ebenfalls in der Reformation wurzelt. Nirgends tritt die poli-
tische Natur der Reformation so deutlich zu Tage wie in England;
dogmatische Streitigkeiten hat es dort gar keine gegeben; schon seit
dem 13. Jahrhundert wusste das ganze Volk, dass es nicht zu Rom
gehören wollte;1) es genügte, dass der König -- durch recht welt-
liche Erwägungen dazu bewogen -- die Verbindung durchschnitt, und
sofort war die Trennung ohne weiteres vollbracht. Später erst erfolgte
die ausdrückliche Abschaffung einiger Dogmen, die der Engländer nie
im Herzen angenommen hatte, sowie die Abschaffung etlicher Cere-
monien (namentlich des Marienkultus), welche zu allen Zeiten seinem
Widerwillen begegnet waren. Es blieb also nach der Reformation alles
beim Alten: und doch war alles von Grund aus neu. Sofort begann
jetzt jene gewaltige Ausdehnungskraft des lange durch Rom gehemmten
Volkes sich zu bethätigen, und damit Hand in Hand -- und zwar mit
schnelleren Schritten, da es die Grundlage zu jener ferneren Entwicke-
lung abgeben musste -- der Aufbau einer kräftigen, freiheitlichen Ver-
fassung. Das grosse Werk wurde von allen Seiten zugleich in Angriff
genommen, doch galt das 16. Jahrhundert in der Hauptsache der Durch-
führung der Reformation (wobei die Bildung der mächtigen Nonkon-
formisten-Sekten eine Hauptrolle spielte), das 17. dem hartnäckigen
Kampf um die Freiheit, das 18. der Ausdehnung des Kolonialbesitzes.
Shakespeare hat den ganzen Vorgang im richtigen Zusammenhang
in der letzten Scene seines Heinrich VIII. vorherverkündet: zuerst
kommt eine wahrhafte Erkenntnis Gottes (die Reformation); dann wird
Grösse nicht mehr durch die Abstammung bestimmt sein, sondern da-
durch, dass Einer die Wege reiner Ehre wandelt (Freiheit aus strenger
Pflichterfüllung); diese also gestärkten Menschen sollen dann ausziehen,
"neue Nationen" zu gründen. Der grosse Dichter hatte das Aufblühen
der ersten Kolonie, Virginia, noch erlebt und in seinem Sturm die
Wunder der westindischen Inseln verherrlicht -- die neue Welt, die sich
dem Menschenblick zu eröffnen begann, mit nie gesehenen Pflanzen und
nie geträumten Tiergestalten. Nur vier Jahre nach seinem Tode ward
das Kolonisationswerk von den herrlichen Puritanern mit grösserer
Energie in die Hand genommen; unter unsäglichen Mühsalen gründeten
sie -- wie ihre feierliche Erklärung es bezeugt -- "aus Liebe zu

1) Im Jahre 1231 wurden Aufrufe durch das ganze Land verbreitet, an die
Mauern angeschlagen, von Haus zu Haus getragen: "Lieber sterben, als durch
Rom zu Grunde gerichtet werden!" Welche angeborene politische Weisheit!

Politik und Kirche.
Augen: dass diese ungeheuere Ausdehnung des kleinen aber kräftigen
Volkes ebenfalls in der Reformation wurzelt. Nirgends tritt die poli-
tische Natur der Reformation so deutlich zu Tage wie in England;
dogmatische Streitigkeiten hat es dort gar keine gegeben; schon seit
dem 13. Jahrhundert wusste das ganze Volk, dass es nicht zu Rom
gehören wollte;1) es genügte, dass der König — durch recht welt-
liche Erwägungen dazu bewogen — die Verbindung durchschnitt, und
sofort war die Trennung ohne weiteres vollbracht. Später erst erfolgte
die ausdrückliche Abschaffung einiger Dogmen, die der Engländer nie
im Herzen angenommen hatte, sowie die Abschaffung etlicher Cere-
monien (namentlich des Marienkultus), welche zu allen Zeiten seinem
Widerwillen begegnet waren. Es blieb also nach der Reformation alles
beim Alten: und doch war alles von Grund aus neu. Sofort begann
jetzt jene gewaltige Ausdehnungskraft des lange durch Rom gehemmten
Volkes sich zu bethätigen, und damit Hand in Hand — und zwar mit
schnelleren Schritten, da es die Grundlage zu jener ferneren Entwicke-
lung abgeben musste — der Aufbau einer kräftigen, freiheitlichen Ver-
fassung. Das grosse Werk wurde von allen Seiten zugleich in Angriff
genommen, doch galt das 16. Jahrhundert in der Hauptsache der Durch-
führung der Reformation (wobei die Bildung der mächtigen Nonkon-
formisten-Sekten eine Hauptrolle spielte), das 17. dem hartnäckigen
Kampf um die Freiheit, das 18. der Ausdehnung des Kolonialbesitzes.
Shakespeare hat den ganzen Vorgang im richtigen Zusammenhang
in der letzten Scene seines Heinrich VIII. vorherverkündet: zuerst
kommt eine wahrhafte Erkenntnis Gottes (die Reformation); dann wird
Grösse nicht mehr durch die Abstammung bestimmt sein, sondern da-
durch, dass Einer die Wege reiner Ehre wandelt (Freiheit aus strenger
Pflichterfüllung); diese also gestärkten Menschen sollen dann ausziehen,
»neue Nationen« zu gründen. Der grosse Dichter hatte das Aufblühen
der ersten Kolonie, Virginia, noch erlebt und in seinem Sturm die
Wunder der westindischen Inseln verherrlicht — die neue Welt, die sich
dem Menschenblick zu eröffnen begann, mit nie gesehenen Pflanzen und
nie geträumten Tiergestalten. Nur vier Jahre nach seinem Tode ward
das Kolonisationswerk von den herrlichen Puritanern mit grösserer
Energie in die Hand genommen; unter unsäglichen Mühsalen gründeten
sie — wie ihre feierliche Erklärung es bezeugt — »aus Liebe zu

1) Im Jahre 1231 wurden Aufrufe durch das ganze Land verbreitet, an die
Mauern angeschlagen, von Haus zu Haus getragen: »Lieber sterben, als durch
Rom zu Grunde gerichtet werden!« Welche angeborene politische Weisheit!
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[855/0334] Politik und Kirche. Augen: dass diese ungeheuere Ausdehnung des kleinen aber kräftigen Volkes ebenfalls in der Reformation wurzelt. Nirgends tritt die poli- tische Natur der Reformation so deutlich zu Tage wie in England; dogmatische Streitigkeiten hat es dort gar keine gegeben; schon seit dem 13. Jahrhundert wusste das ganze Volk, dass es nicht zu Rom gehören wollte; 1) es genügte, dass der König — durch recht welt- liche Erwägungen dazu bewogen — die Verbindung durchschnitt, und sofort war die Trennung ohne weiteres vollbracht. Später erst erfolgte die ausdrückliche Abschaffung einiger Dogmen, die der Engländer nie im Herzen angenommen hatte, sowie die Abschaffung etlicher Cere- monien (namentlich des Marienkultus), welche zu allen Zeiten seinem Widerwillen begegnet waren. Es blieb also nach der Reformation alles beim Alten: und doch war alles von Grund aus neu. Sofort begann jetzt jene gewaltige Ausdehnungskraft des lange durch Rom gehemmten Volkes sich zu bethätigen, und damit Hand in Hand — und zwar mit schnelleren Schritten, da es die Grundlage zu jener ferneren Entwicke- lung abgeben musste — der Aufbau einer kräftigen, freiheitlichen Ver- fassung. Das grosse Werk wurde von allen Seiten zugleich in Angriff genommen, doch galt das 16. Jahrhundert in der Hauptsache der Durch- führung der Reformation (wobei die Bildung der mächtigen Nonkon- formisten-Sekten eine Hauptrolle spielte), das 17. dem hartnäckigen Kampf um die Freiheit, das 18. der Ausdehnung des Kolonialbesitzes. Shakespeare hat den ganzen Vorgang im richtigen Zusammenhang in der letzten Scene seines Heinrich VIII. vorherverkündet: zuerst kommt eine wahrhafte Erkenntnis Gottes (die Reformation); dann wird Grösse nicht mehr durch die Abstammung bestimmt sein, sondern da- durch, dass Einer die Wege reiner Ehre wandelt (Freiheit aus strenger Pflichterfüllung); diese also gestärkten Menschen sollen dann ausziehen, »neue Nationen« zu gründen. Der grosse Dichter hatte das Aufblühen der ersten Kolonie, Virginia, noch erlebt und in seinem Sturm die Wunder der westindischen Inseln verherrlicht — die neue Welt, die sich dem Menschenblick zu eröffnen begann, mit nie gesehenen Pflanzen und nie geträumten Tiergestalten. Nur vier Jahre nach seinem Tode ward das Kolonisationswerk von den herrlichen Puritanern mit grösserer Energie in die Hand genommen; unter unsäglichen Mühsalen gründeten sie — wie ihre feierliche Erklärung es bezeugt — »aus Liebe zu 1) Im Jahre 1231 wurden Aufrufe durch das ganze Land verbreitet, an die Mauern angeschlagen, von Haus zu Haus getragen: »Lieber sterben, als durch Rom zu Grunde gerichtet werden!« Welche angeborene politische Weisheit!

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 855. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/334>, abgerufen am 22.11.2024.