schaften von Neuem das Haupt und legt eine stolze Bahn zurück, von Campanella (vielleicht dem ersten bewusst-wissenschaftlichen Erkenntnis- theoretiker, 1568--1639) und Francis Bacon (1561--1626) an bis zu Immanuel Kant (1724--1804) an der Grenze unseres Jahrhunderts. So mannigfaltig waren die dem Menschengeiste durch treue Befolgung seiner wahren Natur eröffneten Richtungen! Und zwar ward uns auf jedem der genannten Pfade eine reiche Ernte zu teil. Aus paulinischer Theologie entsprang Kirchenreform und politische Freiheit, aus Mystik religiöse Vertiefung und Reform und zugleich geniale Naturwissenschaft, aus dem erwachten humanistischen Wissensdrange echte, freiheitliche, kulturelle Bildung, aus dem Neuaufbau der speziellen Philosophie auf Grundlage exakter Beobachtung und kritischen, freien Denkens, eine immense Erweiterung des Gesichtskreises, die Vertiefung aller wissen- schaftlichen Erkenntnisse, und die Grundlage einer vollkommenen Um- gestaltung der religiösen Vorstellungen im germanischen Sinne.
Der Weg der Unwahr- haftigkeit.
Der andere Weg dagegen, den ich als den der Unwahrhaftigkeit bezeichnete, blieb vollkommen unfruchtbar; denn hier herrschte ge- waltsame Willkür und willkürliche Gewalt. Schon das blosse Vor- haben, die Religion restlos zu rationalisieren, d. h. der Vernunft an- zupassen, und zugleich das Denken unter das Joch des Glaubens ge- fesselt einspannen zu wollen, bedeutet ein zwiefaches Verbrechen an der Menschennatur. Nur durch den bis zur Raserei gesteigerten dog- matischen Wahn konnte es gelingen. Eine aus den verschiedensten fremden Elementen zusammengeflickte, in den wesentlichsten Punkten sich selbst widersprechende Kirchenlehre musste als ewige, göttliche Wahrheit, eine nur aus schlechten Übersetzungen von Bruchstücken gekannte, vielfach total missverstandene, von Hause aus rein indivi- duelle, vorchristliche Philosophie musste für unfehlbar erklärt werden: denn ohne diese ungeheueren Annahmen wäre das Kunststück unmög- lich geblieben. Und nun wurden diese Theologie und diese Philo- sophie -- die sich ausserdem gegenseitig nichts angingen -- zu einer Zwangsehe genötigt, und diese Monstrosität der Menschheit als ab- solutes, allumfassendes System zur bedingungslosen Annahme aufge- zwungen.1) Auf diesem Wege war die Entwickelung geradlinig und kurz; denn ist die göttliche Wahrheit so mannigfaltig wie die Wesen, in denen sie sich widerspiegelt, so gelangt dagegen die frevelhafte Will- kür eines die "Wahrheit" dekretierenden und mit Feuer und Schwert
1) Siehe S. 683.
Die Entstehung einer neuen Welt.
schaften von Neuem das Haupt und legt eine stolze Bahn zurück, von Campanella (vielleicht dem ersten bewusst-wissenschaftlichen Erkenntnis- theoretiker, 1568—1639) und Francis Bacon (1561—1626) an bis zu Immanuel Kant (1724—1804) an der Grenze unseres Jahrhunderts. So mannigfaltig waren die dem Menschengeiste durch treue Befolgung seiner wahren Natur eröffneten Richtungen! Und zwar ward uns auf jedem der genannten Pfade eine reiche Ernte zu teil. Aus paulinischer Theologie entsprang Kirchenreform und politische Freiheit, aus Mystik religiöse Vertiefung und Reform und zugleich geniale Naturwissenschaft, aus dem erwachten humanistischen Wissensdrange echte, freiheitliche, kulturelle Bildung, aus dem Neuaufbau der speziellen Philosophie auf Grundlage exakter Beobachtung und kritischen, freien Denkens, eine immense Erweiterung des Gesichtskreises, die Vertiefung aller wissen- schaftlichen Erkenntnisse, und die Grundlage einer vollkommenen Um- gestaltung der religiösen Vorstellungen im germanischen Sinne.
Der Weg der Unwahr- haftigkeit.
Der andere Weg dagegen, den ich als den der Unwahrhaftigkeit bezeichnete, blieb vollkommen unfruchtbar; denn hier herrschte ge- waltsame Willkür und willkürliche Gewalt. Schon das blosse Vor- haben, die Religion restlos zu rationalisieren, d. h. der Vernunft an- zupassen, und zugleich das Denken unter das Joch des Glaubens ge- fesselt einspannen zu wollen, bedeutet ein zwiefaches Verbrechen an der Menschennatur. Nur durch den bis zur Raserei gesteigerten dog- matischen Wahn konnte es gelingen. Eine aus den verschiedensten fremden Elementen zusammengeflickte, in den wesentlichsten Punkten sich selbst widersprechende Kirchenlehre musste als ewige, göttliche Wahrheit, eine nur aus schlechten Übersetzungen von Bruchstücken gekannte, vielfach total missverstandene, von Hause aus rein indivi- duelle, vorchristliche Philosophie musste für unfehlbar erklärt werden: denn ohne diese ungeheueren Annahmen wäre das Kunststück unmög- lich geblieben. Und nun wurden diese Theologie und diese Philo- sophie — die sich ausserdem gegenseitig nichts angingen — zu einer Zwangsehe genötigt, und diese Monstrosität der Menschheit als ab- solutes, allumfassendes System zur bedingungslosen Annahme aufge- zwungen.1) Auf diesem Wege war die Entwickelung geradlinig und kurz; denn ist die göttliche Wahrheit so mannigfaltig wie die Wesen, in denen sie sich widerspiegelt, so gelangt dagegen die frevelhafte Will- kür eines die »Wahrheit« dekretierenden und mit Feuer und Schwert
1) Siehe S. 683.
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Die Entstehung einer neuen Welt.
schaften von Neuem das Haupt und legt eine stolze Bahn zurück, von
Campanella (vielleicht dem ersten bewusst-wissenschaftlichen Erkenntnis-
theoretiker, 1568—1639) und Francis Bacon (1561—1626) an bis zu
Immanuel Kant (1724—1804) an der Grenze unseres Jahrhunderts. So
mannigfaltig waren die dem Menschengeiste durch treue Befolgung seiner
wahren Natur eröffneten Richtungen! Und zwar ward uns auf jedem
der genannten Pfade eine reiche Ernte zu teil. Aus paulinischer Theologie
entsprang Kirchenreform und politische Freiheit, aus Mystik religiöse
Vertiefung und Reform und zugleich geniale Naturwissenschaft, aus
dem erwachten humanistischen Wissensdrange echte, freiheitliche,
kulturelle Bildung, aus dem Neuaufbau der speziellen Philosophie auf
Grundlage exakter Beobachtung und kritischen, freien Denkens, eine
immense Erweiterung des Gesichtskreises, die Vertiefung aller wissen-
schaftlichen Erkenntnisse, und die Grundlage einer vollkommenen Um-
gestaltung der religiösen Vorstellungen im germanischen Sinne.
Der andere Weg dagegen, den ich als den der Unwahrhaftigkeit
bezeichnete, blieb vollkommen unfruchtbar; denn hier herrschte ge-
waltsame Willkür und willkürliche Gewalt. Schon das blosse Vor-
haben, die Religion restlos zu rationalisieren, d. h. der Vernunft an-
zupassen, und zugleich das Denken unter das Joch des Glaubens ge-
fesselt einspannen zu wollen, bedeutet ein zwiefaches Verbrechen an
der Menschennatur. Nur durch den bis zur Raserei gesteigerten dog-
matischen Wahn konnte es gelingen. Eine aus den verschiedensten
fremden Elementen zusammengeflickte, in den wesentlichsten Punkten
sich selbst widersprechende Kirchenlehre musste als ewige, göttliche
Wahrheit, eine nur aus schlechten Übersetzungen von Bruchstücken
gekannte, vielfach total missverstandene, von Hause aus rein indivi-
duelle, vorchristliche Philosophie musste für unfehlbar erklärt werden:
denn ohne diese ungeheueren Annahmen wäre das Kunststück unmög-
lich geblieben. Und nun wurden diese Theologie und diese Philo-
sophie — die sich ausserdem gegenseitig nichts angingen — zu einer
Zwangsehe genötigt, und diese Monstrosität der Menschheit als ab-
solutes, allumfassendes System zur bedingungslosen Annahme aufge-
zwungen. 1) Auf diesem Wege war die Entwickelung geradlinig und
kurz; denn ist die göttliche Wahrheit so mannigfaltig wie die Wesen,
in denen sie sich widerspiegelt, so gelangt dagegen die frevelhafte Will-
kür eines die »Wahrheit« dekretierenden und mit Feuer und Schwert
1) Siehe S. 683.
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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 862. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/341>, abgerufen am 16.06.2024.
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