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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Weltanschauung und Religion.
durchsetzenden Menschensystems bald ans Ziel und jeder Schritt weiter
wäre seine eigene Verleugnung. Anselm, der im Jahre 1109 starb,
kann als der Urheber dieser Methode, das Denken und Fühlen zu
knebeln, gelten; kaum 150 Jahre nach seinem Tode hatten Thomas
von Aquin (1227--1274) und Ramon Lull (1234--1315) das System
bereits bis zur höchsten Vollendung ausgebildet. Ein Fortschritt war hier
unmöglich. Weder enthielt eine derartige absolute theologische Philo-
sophie in sich den Keim zu irgend einer möglichen Entwickelung,
noch konnte sie auf irgend einen Zweig menschlicher Geistesthätigkeit
anregend wirken; im Gegenteil, sie bedeutete notwendiger Weise ein
Ende.1) Wie unanfechtbar diese Behauptung ist, hat uns die schon
mehrfach citierte Bulle Aeterni patris vom 4. August 1879 gezeigt,
welche Thomas von Aquin als den unübertroffenen, einzig autorita-
tiven Philosophen der römischen Weltauffassung auch für den heutigen
Tag hinstellt; und damit nichts fehle, haben gewisse Liebhaber des Ab-
soluten in letzter Zeit den Ramon Lull mit seiner Ars magna noch über
Thomas gestellt. Denn in der That, Thomas, der ein durchaus ehr-
licher germanischer Mann war, von genialer Geistesanlage, und der Alles,
was er wirklich wusste, zu den Füssen des grossen Schwaben, Albert
von Bollstädt, gelernt hatte, bezeichnet ausdrücklich einige wenige der
höchsten Mysterien -- z. B. die Dreieinigkeit und die Menschwerdung
Gottes -- als für die Vernunft unfassbar. Freilich deutet er diese Un-
fassbarkeit ebenfalls rationalistisch, indem er lehrt, Gott habe sie ab-
sichtlich so gestaltet, damit dem Glauben ein Verdienst zukomme! Doch
räumt er die Unbegreiflichkeit wenigstens ein. Das giebt nun Ramon
nicht zu, denn dieser Spanier war in einer anderen Schule gewesen,
nämlich bei den Mohammedanern, und hatte dort die Grundlehre
semitischer Religion eingesogen, nichts dürfe unbegreiflich sein, und so
macht er sich anheischig, alles was man will, durch Vernunftgründe zu
beweisen.2) Er rühmt sich auch, aus seiner Methode (der drehbaren, ver-
schiedenfarbigen Scheiben mit Buchstaben für die Hauptbegriffe u. s. w.)

1) Siehe die Bemerkungen über das Nichtwissen als Quelle aller Zunahme
der Erfahrung, S. 761, und über den Universalismus in seiner sterilisierenden
Wirksamkeit, S. 765 fg.
2) Vergl. S. 393. Sehr wichtig ist übrigens die Bemerkung, dass auch Thomas
von Aquin seine Zuflucht zu den Semiten nehmen muss und vielerorten ausdrücklich
bei den jüdischen Philosophen Maimonides u. A. anknüpft, worüber Näheres bei Dr. J.
Guttmann: Das Verhältnis des Thomas von Aquino zum Judentum und zur jüdischen
Litteratur
(Göttingen 1891).

Weltanschauung und Religion.
durchsetzenden Menschensystems bald ans Ziel und jeder Schritt weiter
wäre seine eigene Verleugnung. Anselm, der im Jahre 1109 starb,
kann als der Urheber dieser Methode, das Denken und Fühlen zu
knebeln, gelten; kaum 150 Jahre nach seinem Tode hatten Thomas
von Aquin (1227—1274) und Ramon Lull (1234—1315) das System
bereits bis zur höchsten Vollendung ausgebildet. Ein Fortschritt war hier
unmöglich. Weder enthielt eine derartige absolute theologische Philo-
sophie in sich den Keim zu irgend einer möglichen Entwickelung,
noch konnte sie auf irgend einen Zweig menschlicher Geistesthätigkeit
anregend wirken; im Gegenteil, sie bedeutete notwendiger Weise ein
Ende.1) Wie unanfechtbar diese Behauptung ist, hat uns die schon
mehrfach citierte Bulle Aeterni patris vom 4. August 1879 gezeigt,
welche Thomas von Aquin als den unübertroffenen, einzig autorita-
tiven Philosophen der römischen Weltauffassung auch für den heutigen
Tag hinstellt; und damit nichts fehle, haben gewisse Liebhaber des Ab-
soluten in letzter Zeit den Ramon Lull mit seiner Ars magna noch über
Thomas gestellt. Denn in der That, Thomas, der ein durchaus ehr-
licher germanischer Mann war, von genialer Geistesanlage, und der Alles,
was er wirklich wusste, zu den Füssen des grossen Schwaben, Albert
von Bollstädt, gelernt hatte, bezeichnet ausdrücklich einige wenige der
höchsten Mysterien — z. B. die Dreieinigkeit und die Menschwerdung
Gottes — als für die Vernunft unfassbar. Freilich deutet er diese Un-
fassbarkeit ebenfalls rationalistisch, indem er lehrt, Gott habe sie ab-
sichtlich so gestaltet, damit dem Glauben ein Verdienst zukomme! Doch
räumt er die Unbegreiflichkeit wenigstens ein. Das giebt nun Ramon
nicht zu, denn dieser Spanier war in einer anderen Schule gewesen,
nämlich bei den Mohammedanern, und hatte dort die Grundlehre
semitischer Religion eingesogen, nichts dürfe unbegreiflich sein, und so
macht er sich anheischig, alles was man will, durch Vernunftgründe zu
beweisen.2) Er rühmt sich auch, aus seiner Methode (der drehbaren, ver-
schiedenfarbigen Scheiben mit Buchstaben für die Hauptbegriffe u. s. w.)

1) Siehe die Bemerkungen über das Nichtwissen als Quelle aller Zunahme
der Erfahrung, S. 761, und über den Universalismus in seiner sterilisierenden
Wirksamkeit, S. 765 fg.
2) Vergl. S. 393. Sehr wichtig ist übrigens die Bemerkung, dass auch Thomas
von Aquin seine Zuflucht zu den Semiten nehmen muss und vielerorten ausdrücklich
bei den jüdischen Philosophen Maimonides u. A. anknüpft, worüber Näheres bei Dr. J.
Guttmann: Das Verhältnis des Thomas von Aquino zum Judentum und zur jüdischen
Litteratur
(Göttingen 1891).
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[863/0342] Weltanschauung und Religion. durchsetzenden Menschensystems bald ans Ziel und jeder Schritt weiter wäre seine eigene Verleugnung. Anselm, der im Jahre 1109 starb, kann als der Urheber dieser Methode, das Denken und Fühlen zu knebeln, gelten; kaum 150 Jahre nach seinem Tode hatten Thomas von Aquin (1227—1274) und Ramon Lull (1234—1315) das System bereits bis zur höchsten Vollendung ausgebildet. Ein Fortschritt war hier unmöglich. Weder enthielt eine derartige absolute theologische Philo- sophie in sich den Keim zu irgend einer möglichen Entwickelung, noch konnte sie auf irgend einen Zweig menschlicher Geistesthätigkeit anregend wirken; im Gegenteil, sie bedeutete notwendiger Weise ein Ende. 1) Wie unanfechtbar diese Behauptung ist, hat uns die schon mehrfach citierte Bulle Aeterni patris vom 4. August 1879 gezeigt, welche Thomas von Aquin als den unübertroffenen, einzig autorita- tiven Philosophen der römischen Weltauffassung auch für den heutigen Tag hinstellt; und damit nichts fehle, haben gewisse Liebhaber des Ab- soluten in letzter Zeit den Ramon Lull mit seiner Ars magna noch über Thomas gestellt. Denn in der That, Thomas, der ein durchaus ehr- licher germanischer Mann war, von genialer Geistesanlage, und der Alles, was er wirklich wusste, zu den Füssen des grossen Schwaben, Albert von Bollstädt, gelernt hatte, bezeichnet ausdrücklich einige wenige der höchsten Mysterien — z. B. die Dreieinigkeit und die Menschwerdung Gottes — als für die Vernunft unfassbar. Freilich deutet er diese Un- fassbarkeit ebenfalls rationalistisch, indem er lehrt, Gott habe sie ab- sichtlich so gestaltet, damit dem Glauben ein Verdienst zukomme! Doch räumt er die Unbegreiflichkeit wenigstens ein. Das giebt nun Ramon nicht zu, denn dieser Spanier war in einer anderen Schule gewesen, nämlich bei den Mohammedanern, und hatte dort die Grundlehre semitischer Religion eingesogen, nichts dürfe unbegreiflich sein, und so macht er sich anheischig, alles was man will, durch Vernunftgründe zu beweisen. 2) Er rühmt sich auch, aus seiner Methode (der drehbaren, ver- schiedenfarbigen Scheiben mit Buchstaben für die Hauptbegriffe u. s. w.) 1) Siehe die Bemerkungen über das Nichtwissen als Quelle aller Zunahme der Erfahrung, S. 761, und über den Universalismus in seiner sterilisierenden Wirksamkeit, S. 765 fg. 2) Vergl. S. 393. Sehr wichtig ist übrigens die Bemerkung, dass auch Thomas von Aquin seine Zuflucht zu den Semiten nehmen muss und vielerorten ausdrücklich bei den jüdischen Philosophen Maimonides u. A. anknüpft, worüber Näheres bei Dr. J. Guttmann: Das Verhältnis des Thomas von Aquino zum Judentum und zur jüdischen Litteratur (Göttingen 1891).

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 863. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/342>, abgerufen am 16.06.2024.