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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Weltanschauung und Religion.
sein, der Weg, den er beschritt, führte zur Freiheit; und warum?
Weil dieser Angelsachse unbedingt wahrhaftig ist. Er nimmt alle
Lehren der römischen Kirche fraglos an, auch diejenigen, welche ger-
manischem Wesen Gewalt anthun, doch verachtet er jeglichen Betrug.
Welcher lutherische Theolog des 18. Jahrhunderts hätte es gewagt,
das Dasein Gottes für philosophisch unbeweisbar zu erklären? welche
Verfolgungen hat nicht Kant gerade deswegen auszustehen gehabt?
Scotus hatte es schon längst erhärtet. Und indem Scotus das Indivi-
duum ausdrücklich als "das einzig Wirkliche" in den Mittelpunkt
seiner Philosophie stellt, rettet er die Persönlichkeit; damit ist aber
alles gerettet. Wie nun Diejenigen, welche in einer und derselben
Richtung -- der Richtung der Wahrhaftigkeit -- sich bewegen, alle
eng zusammengehören, erhellt aus diesem Beispiel besonders deutlich;
denn was der Theologe Scotus lehrt, das hatte der Mystiker Franz von
Assisi gelebt: das Primat des Willens, Gott eine unmittelbare Wahr-
nehmung, nicht eine logische Folgerung, die Persönlichkeit "höchstes
Glück"; und andererseits fand sich Occam, ein Schüler des Scotus und
ein ebenso eifriger Dogmatiker wie sein Meister, veranlasst, nicht allein
die Trennung des Glaubens vom Wissen noch schärfer durchzuführen
und der rationalistischen Theologie durch den Nachweis, die wich-
tigsten Kirchendogmen seien geradezu widersinnig, den Garaus zu
machen (wodurch er zugleich ein Begründer der Beobachtungswissen-
schaften wurde), sondern er verteidigte die Sache der Könige gegen
den päpstlichen Stuhl, d. h. er kämpfte für den germanischen Nationa-
lismus und gegen den römischen Universalismus; zugleich nahm der-
selbe Occam die Rechte der Kirche gegen die Übergriffe des römischen
Pontifex wacker in Schutz -- wofür er in den Kerker geworfen wurde.
Hier knüpfen, wie man sieht, Politik, Wissenschaft und Philosophie in
ihrer ferneren antirömischen Entwickelung unmittelbar an Theologie an.

Schon solche flüchtige Andeutungen werden, glaube ich, genügen,
um die Überzeugung wachzurufen, dass die von mir vorgeschlagene
Gruppierung auf den Kern der Sache geht. Ein grosser Vorzug ist,
dass diese Einteilung nicht auf einige Jahrhunderte beschränkt ist,
sondern einen tausendjährigen Überblick gestattet, von Scotus Erigena
bis Arthur Schopenhauer. Ein weiterer Vorzug, den diese aus dem
Leben gegriffene Klassifikation uns für unser eigenes praktisches Leben
gewährt, ist, dass sie uns unbegrenzte Toleranz gegen jede wahrhaftige,
echt germanische Auffassung lehrt; wir fragen nicht nach dem Was der
Weltanschauung sondern nach dem Wie: frei oder unfrei? persönlich

Weltanschauung und Religion.
sein, der Weg, den er beschritt, führte zur Freiheit; und warum?
Weil dieser Angelsachse unbedingt wahrhaftig ist. Er nimmt alle
Lehren der römischen Kirche fraglos an, auch diejenigen, welche ger-
manischem Wesen Gewalt anthun, doch verachtet er jeglichen Betrug.
Welcher lutherische Theolog des 18. Jahrhunderts hätte es gewagt,
das Dasein Gottes für philosophisch unbeweisbar zu erklären? welche
Verfolgungen hat nicht Kant gerade deswegen auszustehen gehabt?
Scotus hatte es schon längst erhärtet. Und indem Scotus das Indivi-
duum ausdrücklich als »das einzig Wirkliche« in den Mittelpunkt
seiner Philosophie stellt, rettet er die Persönlichkeit; damit ist aber
alles gerettet. Wie nun Diejenigen, welche in einer und derselben
Richtung — der Richtung der Wahrhaftigkeit — sich bewegen, alle
eng zusammengehören, erhellt aus diesem Beispiel besonders deutlich;
denn was der Theologe Scotus lehrt, das hatte der Mystiker Franz von
Assisi gelebt: das Primat des Willens, Gott eine unmittelbare Wahr-
nehmung, nicht eine logische Folgerung, die Persönlichkeit »höchstes
Glück«; und andererseits fand sich Occam, ein Schüler des Scotus und
ein ebenso eifriger Dogmatiker wie sein Meister, veranlasst, nicht allein
die Trennung des Glaubens vom Wissen noch schärfer durchzuführen
und der rationalistischen Theologie durch den Nachweis, die wich-
tigsten Kirchendogmen seien geradezu widersinnig, den Garaus zu
machen (wodurch er zugleich ein Begründer der Beobachtungswissen-
schaften wurde), sondern er verteidigte die Sache der Könige gegen
den päpstlichen Stuhl, d. h. er kämpfte für den germanischen Nationa-
lismus und gegen den römischen Universalismus; zugleich nahm der-
selbe Occam die Rechte der Kirche gegen die Übergriffe des römischen
Pontifex wacker in Schutz — wofür er in den Kerker geworfen wurde.
Hier knüpfen, wie man sieht, Politik, Wissenschaft und Philosophie in
ihrer ferneren antirömischen Entwickelung unmittelbar an Theologie an.

Schon solche flüchtige Andeutungen werden, glaube ich, genügen,
um die Überzeugung wachzurufen, dass die von mir vorgeschlagene
Gruppierung auf den Kern der Sache geht. Ein grosser Vorzug ist,
dass diese Einteilung nicht auf einige Jahrhunderte beschränkt ist,
sondern einen tausendjährigen Überblick gestattet, von Scotus Erigena
bis Arthur Schopenhauer. Ein weiterer Vorzug, den diese aus dem
Leben gegriffene Klassifikation uns für unser eigenes praktisches Leben
gewährt, ist, dass sie uns unbegrenzte Toleranz gegen jede wahrhaftige,
echt germanische Auffassung lehrt; wir fragen nicht nach dem Was der
Weltanschauung sondern nach dem Wie: frei oder unfrei? persönlich

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[869/0348] Weltanschauung und Religion. sein, der Weg, den er beschritt, führte zur Freiheit; und warum? Weil dieser Angelsachse unbedingt wahrhaftig ist. Er nimmt alle Lehren der römischen Kirche fraglos an, auch diejenigen, welche ger- manischem Wesen Gewalt anthun, doch verachtet er jeglichen Betrug. Welcher lutherische Theolog des 18. Jahrhunderts hätte es gewagt, das Dasein Gottes für philosophisch unbeweisbar zu erklären? welche Verfolgungen hat nicht Kant gerade deswegen auszustehen gehabt? Scotus hatte es schon längst erhärtet. Und indem Scotus das Indivi- duum ausdrücklich als »das einzig Wirkliche« in den Mittelpunkt seiner Philosophie stellt, rettet er die Persönlichkeit; damit ist aber alles gerettet. Wie nun Diejenigen, welche in einer und derselben Richtung — der Richtung der Wahrhaftigkeit — sich bewegen, alle eng zusammengehören, erhellt aus diesem Beispiel besonders deutlich; denn was der Theologe Scotus lehrt, das hatte der Mystiker Franz von Assisi gelebt: das Primat des Willens, Gott eine unmittelbare Wahr- nehmung, nicht eine logische Folgerung, die Persönlichkeit »höchstes Glück«; und andererseits fand sich Occam, ein Schüler des Scotus und ein ebenso eifriger Dogmatiker wie sein Meister, veranlasst, nicht allein die Trennung des Glaubens vom Wissen noch schärfer durchzuführen und der rationalistischen Theologie durch den Nachweis, die wich- tigsten Kirchendogmen seien geradezu widersinnig, den Garaus zu machen (wodurch er zugleich ein Begründer der Beobachtungswissen- schaften wurde), sondern er verteidigte die Sache der Könige gegen den päpstlichen Stuhl, d. h. er kämpfte für den germanischen Nationa- lismus und gegen den römischen Universalismus; zugleich nahm der- selbe Occam die Rechte der Kirche gegen die Übergriffe des römischen Pontifex wacker in Schutz — wofür er in den Kerker geworfen wurde. Hier knüpfen, wie man sieht, Politik, Wissenschaft und Philosophie in ihrer ferneren antirömischen Entwickelung unmittelbar an Theologie an. Schon solche flüchtige Andeutungen werden, glaube ich, genügen, um die Überzeugung wachzurufen, dass die von mir vorgeschlagene Gruppierung auf den Kern der Sache geht. Ein grosser Vorzug ist, dass diese Einteilung nicht auf einige Jahrhunderte beschränkt ist, sondern einen tausendjährigen Überblick gestattet, von Scotus Erigena bis Arthur Schopenhauer. Ein weiterer Vorzug, den diese aus dem Leben gegriffene Klassifikation uns für unser eigenes praktisches Leben gewährt, ist, dass sie uns unbegrenzte Toleranz gegen jede wahrhaftige, echt germanische Auffassung lehrt; wir fragen nicht nach dem Was der Weltanschauung sondern nach dem Wie: frei oder unfrei? persönlich

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 869. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/348>, abgerufen am 22.11.2024.