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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.
oder unpersönlich? Dadurch erst lernen wir uns selber vom Fremden
scharf zu scheiden, und gegen ihn sofort und zu allen Zeiten -- und
gäbe er sich noch so edel und uneigennützig und triefend von Ger-
manentum -- mit allen Waffen Front zu machen. Der Feind schleicht
sich ja in die eigene Seele ein. War es denn anders bei Thomas von
Aquin? und erblicken wir nicht Ähnliches bei Leibniz und bei Hegel?
Doctor invincibilis nannte man den grossen Occam: möchten wir in
dem Kampf, der unsere Kultur von allen Seiten bedroht, recht viele
doctores invincibiles erleben!

Die vier
Gruppen.

Jetzt ist, hoffe ich, der Boden genügend vorbereitet, damit wir zu
der methodischen Betrachtung der vier Gruppen von Männern übergehen
können, welche ihre Lebenskraft in den Dienst der Wahrheit stellten,
ohne dass sie gewähnt hätten, sie ganz zu besitzen, sie mit allen Organen
umfassen zu können; durch ihre vereinte Arbeit hat die neue Weltan-
schauung nach und nach immer bestimmtere Gestalt erhalten. Es sind
dies die Theologen, die Mystiker, die Humanisten und die Naturforscher
(zu welch letzteren die Philosophen im engeren Sinne des Wortes ge-
hören). Der Bequemlichkeit halber wollen wir diese vorhin aufgestellten
Gruppen beibehalten, doch ohne ihnen eine weitere Bedeutung als die
einer praktisch brauchbaren Handhabe beizulegen, denn sie gehen an
hundert Orten ineinander über.

Die Theologen.

Wäre ich im Begriff, eine künstliche These zu verfechten, so
würde mir die Gruppe der Theologen viel Kopfzerbrechen machen;
ausserdem würde mich das Gefühl meiner Inkompetenz martern. Doch
ich begnüge mich die Augen zu öffnen, ohne die für mich unverständ-
lichen technischen Einzelheiten in Betracht zu ziehen, und erblicke die
Theologen von der Art des Duns Scotus als die unmittelbaren Anbahner
der Reformation, und nicht allein der Reformation -- denn diese blieb
in religiöser Beziehung ein höchst unbefriedigendes Stückwerk, oder wie
Lamprecht hoffnungsfreudig sagt: "ein Ferment künftiger religiöser
Haltung" -- sondern auch als die Anbahner einer weithin reichenden Be-
wegung von grundlegender Wichtigkeit bei dem Aufbau einer neuen
Weltanschauung. Man weiss, welche Fülle metaphysischen Scharfsinns
Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft auf den Nachweis verwendet,
"dass alle Versuche eines bloss spekulativen Gebrauchs der Vernunft in
Ansehung der Theologie gänzlich fruchtlos und ihrer inneren Beschaffen-
heit nach null und nichtig sind";1) für die Begründung seiner Welt-

1) Siehe den Abschnitt Kritik aller spekulativen Theologie und vergl. auch den
letzten Absatz der Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik.

Die Entstehung einer neuen Welt.
oder unpersönlich? Dadurch erst lernen wir uns selber vom Fremden
scharf zu scheiden, und gegen ihn sofort und zu allen Zeiten — und
gäbe er sich noch so edel und uneigennützig und triefend von Ger-
manentum — mit allen Waffen Front zu machen. Der Feind schleicht
sich ja in die eigene Seele ein. War es denn anders bei Thomas von
Aquin? und erblicken wir nicht Ähnliches bei Leibniz und bei Hegel?
Doctor invincibilis nannte man den grossen Occam: möchten wir in
dem Kampf, der unsere Kultur von allen Seiten bedroht, recht viele
doctores invincibiles erleben!

Die vier
Gruppen.

Jetzt ist, hoffe ich, der Boden genügend vorbereitet, damit wir zu
der methodischen Betrachtung der vier Gruppen von Männern übergehen
können, welche ihre Lebenskraft in den Dienst der Wahrheit stellten,
ohne dass sie gewähnt hätten, sie ganz zu besitzen, sie mit allen Organen
umfassen zu können; durch ihre vereinte Arbeit hat die neue Weltan-
schauung nach und nach immer bestimmtere Gestalt erhalten. Es sind
dies die Theologen, die Mystiker, die Humanisten und die Naturforscher
(zu welch letzteren die Philosophen im engeren Sinne des Wortes ge-
hören). Der Bequemlichkeit halber wollen wir diese vorhin aufgestellten
Gruppen beibehalten, doch ohne ihnen eine weitere Bedeutung als die
einer praktisch brauchbaren Handhabe beizulegen, denn sie gehen an
hundert Orten ineinander über.

Die Theologen.

Wäre ich im Begriff, eine künstliche These zu verfechten, so
würde mir die Gruppe der Theologen viel Kopfzerbrechen machen;
ausserdem würde mich das Gefühl meiner Inkompetenz martern. Doch
ich begnüge mich die Augen zu öffnen, ohne die für mich unverständ-
lichen technischen Einzelheiten in Betracht zu ziehen, und erblicke die
Theologen von der Art des Duns Scotus als die unmittelbaren Anbahner
der Reformation, und nicht allein der Reformation — denn diese blieb
in religiöser Beziehung ein höchst unbefriedigendes Stückwerk, oder wie
Lamprecht hoffnungsfreudig sagt: »ein Ferment künftiger religiöser
Haltung« — sondern auch als die Anbahner einer weithin reichenden Be-
wegung von grundlegender Wichtigkeit bei dem Aufbau einer neuen
Weltanschauung. Man weiss, welche Fülle metaphysischen Scharfsinns
Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft auf den Nachweis verwendet,
»dass alle Versuche eines bloss spekulativen Gebrauchs der Vernunft in
Ansehung der Theologie gänzlich fruchtlos und ihrer inneren Beschaffen-
heit nach null und nichtig sind«;1) für die Begründung seiner Welt-

1) Siehe den Abschnitt Kritik aller spekulativen Theologie und vergl. auch den
letzten Absatz der Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik.
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[870/0349] Die Entstehung einer neuen Welt. oder unpersönlich? Dadurch erst lernen wir uns selber vom Fremden scharf zu scheiden, und gegen ihn sofort und zu allen Zeiten — und gäbe er sich noch so edel und uneigennützig und triefend von Ger- manentum — mit allen Waffen Front zu machen. Der Feind schleicht sich ja in die eigene Seele ein. War es denn anders bei Thomas von Aquin? und erblicken wir nicht Ähnliches bei Leibniz und bei Hegel? Doctor invincibilis nannte man den grossen Occam: möchten wir in dem Kampf, der unsere Kultur von allen Seiten bedroht, recht viele doctores invincibiles erleben! Jetzt ist, hoffe ich, der Boden genügend vorbereitet, damit wir zu der methodischen Betrachtung der vier Gruppen von Männern übergehen können, welche ihre Lebenskraft in den Dienst der Wahrheit stellten, ohne dass sie gewähnt hätten, sie ganz zu besitzen, sie mit allen Organen umfassen zu können; durch ihre vereinte Arbeit hat die neue Weltan- schauung nach und nach immer bestimmtere Gestalt erhalten. Es sind dies die Theologen, die Mystiker, die Humanisten und die Naturforscher (zu welch letzteren die Philosophen im engeren Sinne des Wortes ge- hören). Der Bequemlichkeit halber wollen wir diese vorhin aufgestellten Gruppen beibehalten, doch ohne ihnen eine weitere Bedeutung als die einer praktisch brauchbaren Handhabe beizulegen, denn sie gehen an hundert Orten ineinander über. Wäre ich im Begriff, eine künstliche These zu verfechten, so würde mir die Gruppe der Theologen viel Kopfzerbrechen machen; ausserdem würde mich das Gefühl meiner Inkompetenz martern. Doch ich begnüge mich die Augen zu öffnen, ohne die für mich unverständ- lichen technischen Einzelheiten in Betracht zu ziehen, und erblicke die Theologen von der Art des Duns Scotus als die unmittelbaren Anbahner der Reformation, und nicht allein der Reformation — denn diese blieb in religiöser Beziehung ein höchst unbefriedigendes Stückwerk, oder wie Lamprecht hoffnungsfreudig sagt: »ein Ferment künftiger religiöser Haltung« — sondern auch als die Anbahner einer weithin reichenden Be- wegung von grundlegender Wichtigkeit bei dem Aufbau einer neuen Weltanschauung. Man weiss, welche Fülle metaphysischen Scharfsinns Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft auf den Nachweis verwendet, »dass alle Versuche eines bloss spekulativen Gebrauchs der Vernunft in Ansehung der Theologie gänzlich fruchtlos und ihrer inneren Beschaffen- heit nach null und nichtig sind«; 1) für die Begründung seiner Welt- 1) Siehe den Abschnitt Kritik aller spekulativen Theologie und vergl. auch den letzten Absatz der Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 870. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/349>, abgerufen am 16.06.2024.