Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.Weltanschauung und Religion. legung des biblischen Wortes, die Hervorhebung des evangelischenLebens im Gegensatz zur dogmatischen Lehre konnte nicht ausbleiben. Selbst die mehr äusserliche Bewegung der Empörung gegen den Prunk und die Geldgier und die ganze weltliche Richtung der Kurie war eine so selbstverständliche Folgerung aus diesen Prämissen, dass wir schon Occam gegen alle diese Missbräuche ins Feld ziehen sehen und dass Jacopone da Todi, der Verfasser des Stabat Mater, der geistig bedeutendste der italienischen Franziskaner des 13. Jahrhunderts, zur offenen Empörung gegen Papst Bonifaz VIII. aufruft und dafür die besten Jahre seines Lebens im unterirdischen Kerker zubringt. Und wenn auch gerade Duns Scotus die Bedeutung der Werke so hervor- hebt wie kaum ein zweiter, während er in Bezug auf Gnade und Glaube nicht einmal so weit wie Thomas zu gehen bereit ist, so heisst es wirklich sehr oberflächlich urteilen, wenn man hierin etwas speziell römisches erblicken will und nicht begreift, wie notwendig gerade diese Lehre zu der Luther's führt: denn diesen Franziskanern kommt alles darauf an, den Willen an Stelle der formalen Recht- gläubigkeit in dem Mittelpunkt der Religion zu inthronisieren; dadurch wird Religion zu etwas Erlebtem, Erfahrenem, Gegenwärtigem. Wie Luther sagt: "Glaube ist grundguter Wille"; und an anderer Stelle: "es ist ein lebendig, geschäftig, thätig, mächtig Ding um den Glauben, also dass es unmöglich ist, dass er nicht ohne Unterlass sollte Gutes wirken".1) Dieser "Wille" nun, dieses "Wirken" sind das, worauf Scotus und Occam, durch Franz belehrt, allen Nachdruck legen, und zwar im Gegensatz zu einem kalten, akademischen Fürwahrhalten. Mit den Begriffen "Glaube" und "gute Werke" wird heute von ge- wissen vielgelesenen Autoren ein recht frivoles Spiel getrieben; ohne mich mit Denjenigen einzulassen, welche das Lügen als ein "gutes Werk" betreiben, bitte ich jeden unvoreingenommenen Menschen, Franz von Assisi zu betrachten und zu sagen, was den Kern dieser Persön- lichkeit ausmacht? Jeder wird antworten müssen: die Gewalt des Glaubens. Er ist der verkörperte Glaube: "nicht Lehre, sondern Leben, nicht Wort, sondern Wesen." Man lese nur die Geschichte seines Lebens: nicht priesterliche Ermahnung, nicht sakramentale Weihe hat ihn zu Gott geführt, sondern der Anblick des Gekreuzigten in einer verfallenen Kapelle bei Assisi und dessen Worte in dem fleissig gele- senen Evangelium.2) Und doch gilt uns Franz -- sowie der von 1) Vergl. die Vorrede auf die Epistel Pauli an die Römer. 2) Man sehe z. B. Paul Sabatier: Vie de S. Francois d'Assise, 1896, Kap. 4. Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 56
Weltanschauung und Religion. legung des biblischen Wortes, die Hervorhebung des evangelischenLebens im Gegensatz zur dogmatischen Lehre konnte nicht ausbleiben. Selbst die mehr äusserliche Bewegung der Empörung gegen den Prunk und die Geldgier und die ganze weltliche Richtung der Kurie war eine so selbstverständliche Folgerung aus diesen Prämissen, dass wir schon Occam gegen alle diese Missbräuche ins Feld ziehen sehen und dass Jacopone da Todi, der Verfasser des Stabat Mater, der geistig bedeutendste der italienischen Franziskaner des 13. Jahrhunderts, zur offenen Empörung gegen Papst Bonifaz VIII. aufruft und dafür die besten Jahre seines Lebens im unterirdischen Kerker zubringt. Und wenn auch gerade Duns Scotus die Bedeutung der Werke so hervor- hebt wie kaum ein zweiter, während er in Bezug auf Gnade und Glaube nicht einmal so weit wie Thomas zu gehen bereit ist, so heisst es wirklich sehr oberflächlich urteilen, wenn man hierin etwas speziell römisches erblicken will und nicht begreift, wie notwendig gerade diese Lehre zu der Luther’s führt: denn diesen Franziskanern kommt alles darauf an, den Willen an Stelle der formalen Recht- gläubigkeit in dem Mittelpunkt der Religion zu inthronisieren; dadurch wird Religion zu etwas Erlebtem, Erfahrenem, Gegenwärtigem. Wie Luther sagt: »Glaube ist grundguter Wille«; und an anderer Stelle: »es ist ein lebendig, geschäftig, thätig, mächtig Ding um den Glauben, also dass es unmöglich ist, dass er nicht ohne Unterlass sollte Gutes wirken«.1) Dieser »Wille« nun, dieses »Wirken« sind das, worauf Scotus und Occam, durch Franz belehrt, allen Nachdruck legen, und zwar im Gegensatz zu einem kalten, akademischen Fürwahrhalten. Mit den Begriffen »Glaube« und »gute Werke« wird heute von ge- wissen vielgelesenen Autoren ein recht frivoles Spiel getrieben; ohne mich mit Denjenigen einzulassen, welche das Lügen als ein »gutes Werk« betreiben, bitte ich jeden unvoreingenommenen Menschen, Franz von Assisi zu betrachten und zu sagen, was den Kern dieser Persön- lichkeit ausmacht? Jeder wird antworten müssen: die Gewalt des Glaubens. Er ist der verkörperte Glaube: »nicht Lehre, sondern Leben, nicht Wort, sondern Wesen.« Man lese nur die Geschichte seines Lebens: nicht priesterliche Ermahnung, nicht sakramentale Weihe hat ihn zu Gott geführt, sondern der Anblick des Gekreuzigten in einer verfallenen Kapelle bei Assisi und dessen Worte in dem fleissig gele- senen Evangelium.2) Und doch gilt uns Franz — sowie der von 1) Vergl. die Vorrede auf die Epistel Pauli an die Römer. 2) Man sehe z. B. Paul Sabatier: Vie de S. François d’Assise, 1896, Kap. 4. Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 56
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Weltanschauung und Religion.
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Lebens im Gegensatz zur dogmatischen Lehre konnte nicht ausbleiben.
Selbst die mehr äusserliche Bewegung der Empörung gegen den Prunk
und die Geldgier und die ganze weltliche Richtung der Kurie war
eine so selbstverständliche Folgerung aus diesen Prämissen, dass wir
schon Occam gegen alle diese Missbräuche ins Feld ziehen sehen und
dass Jacopone da Todi, der Verfasser des Stabat Mater, der geistig
bedeutendste der italienischen Franziskaner des 13. Jahrhunderts, zur
offenen Empörung gegen Papst Bonifaz VIII. aufruft und dafür die
besten Jahre seines Lebens im unterirdischen Kerker zubringt. Und
wenn auch gerade Duns Scotus die Bedeutung der Werke so hervor-
hebt wie kaum ein zweiter, während er in Bezug auf Gnade und
Glaube nicht einmal so weit wie Thomas zu gehen bereit ist, so
heisst es wirklich sehr oberflächlich urteilen, wenn man hierin etwas
speziell römisches erblicken will und nicht begreift, wie notwendig
gerade diese Lehre zu der Luther’s führt: denn diesen Franziskanern
kommt alles darauf an, den Willen an Stelle der formalen Recht-
gläubigkeit in dem Mittelpunkt der Religion zu inthronisieren; dadurch
wird Religion zu etwas Erlebtem, Erfahrenem, Gegenwärtigem. Wie
Luther sagt: »Glaube ist grundguter Wille«; und an anderer Stelle:
»es ist ein lebendig, geschäftig, thätig, mächtig Ding um den Glauben,
also dass es unmöglich ist, dass er nicht ohne Unterlass sollte Gutes
wirken«. 1) Dieser »Wille« nun, dieses »Wirken« sind das, worauf
Scotus und Occam, durch Franz belehrt, allen Nachdruck legen, und
zwar im Gegensatz zu einem kalten, akademischen Fürwahrhalten.
Mit den Begriffen »Glaube« und »gute Werke« wird heute von ge-
wissen vielgelesenen Autoren ein recht frivoles Spiel getrieben; ohne
mich mit Denjenigen einzulassen, welche das Lügen als ein »gutes
Werk« betreiben, bitte ich jeden unvoreingenommenen Menschen, Franz
von Assisi zu betrachten und zu sagen, was den Kern dieser Persön-
lichkeit ausmacht? Jeder wird antworten müssen: die Gewalt des
Glaubens. Er ist der verkörperte Glaube: »nicht Lehre, sondern Leben,
nicht Wort, sondern Wesen.« Man lese nur die Geschichte seines
Lebens: nicht priesterliche Ermahnung, nicht sakramentale Weihe hat
ihn zu Gott geführt, sondern der Anblick des Gekreuzigten in einer
verfallenen Kapelle bei Assisi und dessen Worte in dem fleissig gele-
senen Evangelium. 2) Und doch gilt uns Franz — sowie der von
1) Vergl. die Vorrede auf die Epistel Pauli an die Römer.
2) Man sehe z. B. Paul Sabatier: Vie de S. François d’Assise, 1896, Kap. 4.
Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 56
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