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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.
ihm gegründete Orden -- nicht mit Unrecht als der besondere Apostel
der guten Werke. Und nun betrachte man Martin Luther -- den
Verfechter der Erlösung durch den Glauben -- und sage, ob derselbe
keine Werke vollbracht hat? ob dieses Leben nicht ganz und gar
dem Wirken gewidmet war? und ob nicht gerade dieser Mann uns
das Geheimnis der guten Werke enthüllt hat? nämlich, dass sie sein
müssen: "eitel freie Werke, um keines Dings willen gethan, als
allein Gott zu gefallen, und nicht um Frömmigkeit zu erlangen ....
denn wo der falsche Anhang und die verkehrte Meinung darin ist,
dass durch die Werke wir fromm und selig werden wollen, sind sie
schon nicht gut und ganz verdammlich, denn sie sind nicht
frei.
"1) Mögen die Gelehrten darüber den Kopf schütteln so viel
sie wollen, wir Laien begreifen recht gut, dass ein Franz von Assisi
zu einem Duns Scotus geführt hat und dieser wiederum zu einem
Martin Luther. Denn die Befreiung -- die Befreiung der Persönlich-
keit -- liegt hier überall zu Grunde. Das ganze Leben des Franz ist
Empörung des Individuums: Empörung gegen seine Familie, Empörung
gegen die ganze ihn umgebende Gesellschaft, Empörung gegen eine tief
korrumpierte Geistlichkeit und gegen eine von apostolischer Tradition
so weit abgefallene Kirche; und während das Priestertum ihm bestimmte
Wege als allein zur Seligkeit führend vorschreibt, geht er unentwegt
seine eigenen und verkehrt als freier Mann unmittelbar mit seinem
Gotte. In das Theologisch-philosophische übertragen, musste eine solche
Auffassung zur fast ausschliesslichen Betonung der Freiheit des Willens
führen, was ja bei Scotus der Fall war. Wir müssen unbedingt zugeben,
dass dieser mit seiner einseitigen Hervorhebung des liberum arbitrium
weniger philosophische Tiefe verrät als sein Gegner, Thomas, doch um
so mehr religiöse und (wenn ich so sagen darf) politische. Denn hier-
durch gelingt es dieser Theologie, den Schwerpunkt der Religion --
im direkten Gegensatz zu Rom -- in das Individuum zu verlegen:
"Christus ist die Thüre zum Heil; an dir, Mensch, liegt es, hinein-
zutreten oder nicht!" Das nun -- diese Hervorhebung der freien
Persönlichkeit -- ist das Entscheidende, das allein und nicht die Spitz-
findigkeiten über Gnade und Verdienst, über Glauben und gute Werke.
Auf diesem Wege schritt man notwendiger Weise einer antirömischen,
antisacerdotalen Auffassung der Kirche, und überhaupt einer anderen,
nicht historisch-materialistischen, sondern innerlichen Religion entgegen.

1) Von der Freiheit eines Christenmenschen 22, 25.

Die Entstehung einer neuen Welt.
ihm gegründete Orden — nicht mit Unrecht als der besondere Apostel
der guten Werke. Und nun betrachte man Martin Luther — den
Verfechter der Erlösung durch den Glauben — und sage, ob derselbe
keine Werke vollbracht hat? ob dieses Leben nicht ganz und gar
dem Wirken gewidmet war? und ob nicht gerade dieser Mann uns
das Geheimnis der guten Werke enthüllt hat? nämlich, dass sie sein
müssen: »eitel freie Werke, um keines Dings willen gethan, als
allein Gott zu gefallen, und nicht um Frömmigkeit zu erlangen ....
denn wo der falsche Anhang und die verkehrte Meinung darin ist,
dass durch die Werke wir fromm und selig werden wollen, sind sie
schon nicht gut und ganz verdammlich, denn sie sind nicht
frei.
«1) Mögen die Gelehrten darüber den Kopf schütteln so viel
sie wollen, wir Laien begreifen recht gut, dass ein Franz von Assisi
zu einem Duns Scotus geführt hat und dieser wiederum zu einem
Martin Luther. Denn die Befreiung — die Befreiung der Persönlich-
keit — liegt hier überall zu Grunde. Das ganze Leben des Franz ist
Empörung des Individuums: Empörung gegen seine Familie, Empörung
gegen die ganze ihn umgebende Gesellschaft, Empörung gegen eine tief
korrumpierte Geistlichkeit und gegen eine von apostolischer Tradition
so weit abgefallene Kirche; und während das Priestertum ihm bestimmte
Wege als allein zur Seligkeit führend vorschreibt, geht er unentwegt
seine eigenen und verkehrt als freier Mann unmittelbar mit seinem
Gotte. In das Theologisch-philosophische übertragen, musste eine solche
Auffassung zur fast ausschliesslichen Betonung der Freiheit des Willens
führen, was ja bei Scotus der Fall war. Wir müssen unbedingt zugeben,
dass dieser mit seiner einseitigen Hervorhebung des liberum arbitrium
weniger philosophische Tiefe verrät als sein Gegner, Thomas, doch um
so mehr religiöse und (wenn ich so sagen darf) politische. Denn hier-
durch gelingt es dieser Theologie, den Schwerpunkt der Religion —
im direkten Gegensatz zu Rom — in das Individuum zu verlegen:
»Christus ist die Thüre zum Heil; an dir, Mensch, liegt es, hinein-
zutreten oder nicht!« Das nun — diese Hervorhebung der freien
Persönlichkeit — ist das Entscheidende, das allein und nicht die Spitz-
findigkeiten über Gnade und Verdienst, über Glauben und gute Werke.
Auf diesem Wege schritt man notwendiger Weise einer antirömischen,
antisacerdotalen Auffassung der Kirche, und überhaupt einer anderen,
nicht historisch-materialistischen, sondern innerlichen Religion entgegen.

1) Von der Freiheit eines Christenmenschen 22, 25.
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[874/0353] Die Entstehung einer neuen Welt. ihm gegründete Orden — nicht mit Unrecht als der besondere Apostel der guten Werke. Und nun betrachte man Martin Luther — den Verfechter der Erlösung durch den Glauben — und sage, ob derselbe keine Werke vollbracht hat? ob dieses Leben nicht ganz und gar dem Wirken gewidmet war? und ob nicht gerade dieser Mann uns das Geheimnis der guten Werke enthüllt hat? nämlich, dass sie sein müssen: »eitel freie Werke, um keines Dings willen gethan, als allein Gott zu gefallen, und nicht um Frömmigkeit zu erlangen .... denn wo der falsche Anhang und die verkehrte Meinung darin ist, dass durch die Werke wir fromm und selig werden wollen, sind sie schon nicht gut und ganz verdammlich, denn sie sind nicht frei.« 1) Mögen die Gelehrten darüber den Kopf schütteln so viel sie wollen, wir Laien begreifen recht gut, dass ein Franz von Assisi zu einem Duns Scotus geführt hat und dieser wiederum zu einem Martin Luther. Denn die Befreiung — die Befreiung der Persönlich- keit — liegt hier überall zu Grunde. Das ganze Leben des Franz ist Empörung des Individuums: Empörung gegen seine Familie, Empörung gegen die ganze ihn umgebende Gesellschaft, Empörung gegen eine tief korrumpierte Geistlichkeit und gegen eine von apostolischer Tradition so weit abgefallene Kirche; und während das Priestertum ihm bestimmte Wege als allein zur Seligkeit führend vorschreibt, geht er unentwegt seine eigenen und verkehrt als freier Mann unmittelbar mit seinem Gotte. In das Theologisch-philosophische übertragen, musste eine solche Auffassung zur fast ausschliesslichen Betonung der Freiheit des Willens führen, was ja bei Scotus der Fall war. Wir müssen unbedingt zugeben, dass dieser mit seiner einseitigen Hervorhebung des liberum arbitrium weniger philosophische Tiefe verrät als sein Gegner, Thomas, doch um so mehr religiöse und (wenn ich so sagen darf) politische. Denn hier- durch gelingt es dieser Theologie, den Schwerpunkt der Religion — im direkten Gegensatz zu Rom — in das Individuum zu verlegen: »Christus ist die Thüre zum Heil; an dir, Mensch, liegt es, hinein- zutreten oder nicht!« Das nun — diese Hervorhebung der freien Persönlichkeit — ist das Entscheidende, das allein und nicht die Spitz- findigkeiten über Gnade und Verdienst, über Glauben und gute Werke. Auf diesem Wege schritt man notwendiger Weise einer antirömischen, antisacerdotalen Auffassung der Kirche, und überhaupt einer anderen, nicht historisch-materialistischen, sondern innerlichen Religion entgegen. 1) Von der Freiheit eines Christenmenschen 22, 25.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 874. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/353>, abgerufen am 22.11.2024.