Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.Weltanschauung und Religion. Das zeigte sich bald. Zwar schob gerade Luther, der politische Held,dieser natürlichen und unerlässlichen religiösen Bewegung auf lange Zeit den Riegel vor. Wie Duns Scotus hüllte auch er seine gesunde, kräftige, Freiheit atmende Erkenntnis in ein Gewebe spitzfindiger Theo- logeme und lebte ganz noch in den historischen und darum unbedingt intoleranten Vorstellungen eines aus dem Judentum hervorgewachsenen Glaubens; doch verlieh ihm diese Geistesverfassung zum rechten Werk die rechte Kraft: in seinem Kampf für das Vaterland und für die Würde der Germanen hat er gesiegt, wogegen seine starre mönchische Theo- logie wie ein irdener Topf zerbröckelte, zu klein für den Inhalt, den er selber hineingethan hatte. Erst in unserem Jahrhundert hat man bei jenen grossen Theologen wieder angeknüpft, um den Weg zur Freiheit auch auf dem Gebiete der Gottesgelehrsamkeit weiter zu wandeln. Unterschätzen wir nicht den Wert der Theologen für die Ent- 1) Citirt nach Schopenhauer: Über den Willen in der Natur (Abschnitt "Phy- sische Astronomie"). 2) Predigt am Erscheinungsfest 1492 (nach der Übersetzung von Langsdorff). 56*
Weltanschauung und Religion. Das zeigte sich bald. Zwar schob gerade Luther, der politische Held,dieser natürlichen und unerlässlichen religiösen Bewegung auf lange Zeit den Riegel vor. Wie Duns Scotus hüllte auch er seine gesunde, kräftige, Freiheit atmende Erkenntnis in ein Gewebe spitzfindiger Theo- logeme und lebte ganz noch in den historischen und darum unbedingt intoleranten Vorstellungen eines aus dem Judentum hervorgewachsenen Glaubens; doch verlieh ihm diese Geistesverfassung zum rechten Werk die rechte Kraft: in seinem Kampf für das Vaterland und für die Würde der Germanen hat er gesiegt, wogegen seine starre mönchische Theo- logie wie ein irdener Topf zerbröckelte, zu klein für den Inhalt, den er selber hineingethan hatte. Erst in unserem Jahrhundert hat man bei jenen grossen Theologen wieder angeknüpft, um den Weg zur Freiheit auch auf dem Gebiete der Gottesgelehrsamkeit weiter zu wandeln. Unterschätzen wir nicht den Wert der Theologen für die Ent- 1) Citirt nach Schopenhauer: Über den Willen in der Natur (Abschnitt »Phy- sische Astronomie«). 2) Predigt am Erscheinungsfest 1492 (nach der Übersetzung von Langsdorff). 56*
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Weltanschauung und Religion.
Das zeigte sich bald. Zwar schob gerade Luther, der politische Held,
dieser natürlichen und unerlässlichen religiösen Bewegung auf lange
Zeit den Riegel vor. Wie Duns Scotus hüllte auch er seine gesunde,
kräftige, Freiheit atmende Erkenntnis in ein Gewebe spitzfindiger Theo-
logeme und lebte ganz noch in den historischen und darum unbedingt
intoleranten Vorstellungen eines aus dem Judentum hervorgewachsenen
Glaubens; doch verlieh ihm diese Geistesverfassung zum rechten Werk
die rechte Kraft: in seinem Kampf für das Vaterland und für die Würde
der Germanen hat er gesiegt, wogegen seine starre mönchische Theo-
logie wie ein irdener Topf zerbröckelte, zu klein für den Inhalt, den er
selber hineingethan hatte. Erst in unserem Jahrhundert hat man bei
jenen grossen Theologen wieder angeknüpft, um den Weg zur Freiheit
auch auf dem Gebiete der Gottesgelehrsamkeit weiter zu wandeln.
Unterschätzen wir nicht den Wert der Theologen für die Ent-
wickelung unserer Kultur! Wer das hier nur Angedeutete mit einem
reicheren Wissen, als mir zu Gebote steht, weiter verfolgt, wird, glaube
ich, bis in unsere Zeit hinein ihr Wirken vielfach reich gesegnet finden.
Wenn ein gelehrter römischer Theolog, Abälard, im 10. Jahrhundert
schon ausruft: si omnes patres sic, at ego non sic! 1) so wäre zu wünschen,
dass recht viele Theologen des 19. Jahrhunderts denselben Mannesmut
besässen. Ein Savonarola — der Mann, dessen Feuergeist einen Leonardo,
einen Michelangelo, einen Raffael begeisterte — thut mehr für die Be-
freiung, wenn er von der Kanzel aus hinunterruft: »Sieh’ Rom an,
das Haupt der Welt, und von dort sieh’ auf die Glieder! da ist von
der Fussohle bis zum Scheitel nichts Gesundes mehr. Wir leben unter
Christen, wir verkehren mit ihnen; aber sie sind keine Christen, die’s
nur sind dem Namen nach; da wäre es wirklich besser, wir wären
unter Heiden!« 2) — dieser Mönch, sage ich, wenn er zu Tausenden
so spricht und seine Worte mit dem Tode auf dem Scheiterhaufen
besiegelt, thut mehr für die Freiheit als eine ganze Akademie von Frei-
geistern; denn Freiheit wird nicht durch Ansichten, sondern durch
Verhalten bewährt, sie ist »nicht Wort, sondern Wesen«. In unserm
Jahrhundert hat desgleichen ein frommer, innig religiöser Schleiermacher
für die Gewinnung einer lebendigen religiösen Weltanschauung gewiss
mehr geleistet als ein skeptischer David Strauss.
1) Citirt nach Schopenhauer: Über den Willen in der Natur (Abschnitt »Phy-
sische Astronomie«).
2) Predigt am Erscheinungsfest 1492 (nach der Übersetzung von Langsdorff).
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