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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Weltanschauung und Religion.
Reiche des Erforschlichen und des Unerforschlichen nicht gegeben; sie
ist eine juristische, unreligiöse Sprache. Wir dürfen mit aller Bestimmt-
heit behaupten, dass ohne das Vehikel unserer eigenen germanischen
Sprachen es uns niemals hätte gelingen können, unsere Weltanschau-
ung zu gestalten.1)

Doch wie gross dieses Verdienst auch sei, es erschöpft noch
nicht den Beitrag der Humanisten zu unserem Kulturwerke. Dieses
Hervorheben und -- wenn ich so sagen darf -- Herausmeisseln des
Unterschiedlichen, diese Betonung der Berechtigung, ja, der Heiligkeit
des Individuellen, führte zum erstenmal zur bewussten Anerkennung
des Wertes der einzelnen Persönlichkeit. Zwar lag diese Erkenntnis
schon in der Gedankenrichtung eines Duns Scotus implicite ein-
geschlossen (S. 874); doch erst durch die Arbeiten der Humanisten
wurde sie Gemeingut. Die Vorstellung des Genies -- d. h. der
Persönlichkeit in ihrer höchsten Potenz -- ist hier das Entscheidende.
Die Männer, deren Kenntnisse ein ausgedehntes Gebiet umfassten, be-
merkten nach und nach, in wie verschiedenem Masse die Persönlich-
keit sich autonom und insofern durchaus original und schöpferisch
kundthut. Vom Beginne der humanistischen Bewegung an kann man
das Dämmern dieser unausbleiblichen Erkenntnis verfolgen, bis sie
bei den Humanisten des vorigen Jahrhunderts so gewaltig durchdrang,

1) Eine Betrachtung, die leider hier keinen Platz finden kann, doch an auf-
klärenden Ergebnissen reiche Ausbeute verspräche, wäre die über den unausbleib-
lichen Einfluss unserer verschiedenen modernen Sprachen auf die Philosophie, die
in ihnen Ausdruck findet. Die englische Sprache z. B., so reich wie keine zweite
an poetischer Suggestionskraft, entbehrt der Fähigkeit, einem subtilen Gedanken bis
in seine innersten, geheimsten Windungen zu folgen; an einem bestimmten Punkt
versagt sie und es zeigt sich, dass sie nur für das nüchtern Praktisch-Empirische,
oder aber für das Schwärmerisch-Poetische ausreicht; sie bleibt gleichsam auf
beiden Seiten der scheidenden Grenzlinie zwischen den zwei Reichen zu fern von
dieser Linie selbst, als dass ein Übergang, ein Hinüber- und Herüberschweben
möglich wäre. Die deutsche Sprache, zugleich weniger poetisch und weniger kom-
pakt, ist ein unvergleichlich besseres Werkzeug für die Philosophie: in ihrem Auf-
bau wiegt das logische Prinzip mehr vor, ausserdem erlaubt ihre reiche Skala von
Ausdrucksnüancen die feinsten Unterschiede aufzustellen, und dadurch ist sie zu-
gleich für die genaueste Analyse geeignet und auch für die Andeutung nicht analysier-
barer Erkenntnisse. Die schottischen Denker, so ausserordentlich begabt, haben es
nie über die verneinende Kritik des Hume hinausbringen können; Immanuel Kant,
dem selben schottischen Stamme entsprossen, erhielt von dem Schicksal die deutsche
Sprache geschenkt und war dadurch in der Lage, ein Gedankenwerk zu vollbringen,
welches durch keine Übersetzungskunst ins Englische übertragen werden kann.

Weltanschauung und Religion.
Reiche des Erforschlichen und des Unerforschlichen nicht gegeben; sie
ist eine juristische, unreligiöse Sprache. Wir dürfen mit aller Bestimmt-
heit behaupten, dass ohne das Vehikel unserer eigenen germanischen
Sprachen es uns niemals hätte gelingen können, unsere Weltanschau-
ung zu gestalten.1)

Doch wie gross dieses Verdienst auch sei, es erschöpft noch
nicht den Beitrag der Humanisten zu unserem Kulturwerke. Dieses
Hervorheben und — wenn ich so sagen darf — Herausmeisseln des
Unterschiedlichen, diese Betonung der Berechtigung, ja, der Heiligkeit
des Individuellen, führte zum erstenmal zur bewussten Anerkennung
des Wertes der einzelnen Persönlichkeit. Zwar lag diese Erkenntnis
schon in der Gedankenrichtung eines Duns Scotus implicite ein-
geschlossen (S. 874); doch erst durch die Arbeiten der Humanisten
wurde sie Gemeingut. Die Vorstellung des Genies — d. h. der
Persönlichkeit in ihrer höchsten Potenz — ist hier das Entscheidende.
Die Männer, deren Kenntnisse ein ausgedehntes Gebiet umfassten, be-
merkten nach und nach, in wie verschiedenem Masse die Persönlich-
keit sich autonom und insofern durchaus original und schöpferisch
kundthut. Vom Beginne der humanistischen Bewegung an kann man
das Dämmern dieser unausbleiblichen Erkenntnis verfolgen, bis sie
bei den Humanisten des vorigen Jahrhunderts so gewaltig durchdrang,

1) Eine Betrachtung, die leider hier keinen Platz finden kann, doch an auf-
klärenden Ergebnissen reiche Ausbeute verspräche, wäre die über den unausbleib-
lichen Einfluss unserer verschiedenen modernen Sprachen auf die Philosophie, die
in ihnen Ausdruck findet. Die englische Sprache z. B., so reich wie keine zweite
an poetischer Suggestionskraft, entbehrt der Fähigkeit, einem subtilen Gedanken bis
in seine innersten, geheimsten Windungen zu folgen; an einem bestimmten Punkt
versagt sie und es zeigt sich, dass sie nur für das nüchtern Praktisch-Empirische,
oder aber für das Schwärmerisch-Poetische ausreicht; sie bleibt gleichsam auf
beiden Seiten der scheidenden Grenzlinie zwischen den zwei Reichen zu fern von
dieser Linie selbst, als dass ein Übergang, ein Hinüber- und Herüberschweben
möglich wäre. Die deutsche Sprache, zugleich weniger poetisch und weniger kom-
pakt, ist ein unvergleichlich besseres Werkzeug für die Philosophie: in ihrem Auf-
bau wiegt das logische Prinzip mehr vor, ausserdem erlaubt ihre reiche Skala von
Ausdrucksnüancen die feinsten Unterschiede aufzustellen, und dadurch ist sie zu-
gleich für die genaueste Analyse geeignet und auch für die Andeutung nicht analysier-
barer Erkenntnisse. Die schottischen Denker, so ausserordentlich begabt, haben es
nie über die verneinende Kritik des Hume hinausbringen können; Immanuel Kant,
dem selben schottischen Stamme entsprossen, erhielt von dem Schicksal die deutsche
Sprache geschenkt und war dadurch in der Lage, ein Gedankenwerk zu vollbringen,
welches durch keine Übersetzungskunst ins Englische übertragen werden kann.
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[895/0374] Weltanschauung und Religion. Reiche des Erforschlichen und des Unerforschlichen nicht gegeben; sie ist eine juristische, unreligiöse Sprache. Wir dürfen mit aller Bestimmt- heit behaupten, dass ohne das Vehikel unserer eigenen germanischen Sprachen es uns niemals hätte gelingen können, unsere Weltanschau- ung zu gestalten. 1) Doch wie gross dieses Verdienst auch sei, es erschöpft noch nicht den Beitrag der Humanisten zu unserem Kulturwerke. Dieses Hervorheben und — wenn ich so sagen darf — Herausmeisseln des Unterschiedlichen, diese Betonung der Berechtigung, ja, der Heiligkeit des Individuellen, führte zum erstenmal zur bewussten Anerkennung des Wertes der einzelnen Persönlichkeit. Zwar lag diese Erkenntnis schon in der Gedankenrichtung eines Duns Scotus implicite ein- geschlossen (S. 874); doch erst durch die Arbeiten der Humanisten wurde sie Gemeingut. Die Vorstellung des Genies — d. h. der Persönlichkeit in ihrer höchsten Potenz — ist hier das Entscheidende. Die Männer, deren Kenntnisse ein ausgedehntes Gebiet umfassten, be- merkten nach und nach, in wie verschiedenem Masse die Persönlich- keit sich autonom und insofern durchaus original und schöpferisch kundthut. Vom Beginne der humanistischen Bewegung an kann man das Dämmern dieser unausbleiblichen Erkenntnis verfolgen, bis sie bei den Humanisten des vorigen Jahrhunderts so gewaltig durchdrang, 1) Eine Betrachtung, die leider hier keinen Platz finden kann, doch an auf- klärenden Ergebnissen reiche Ausbeute verspräche, wäre die über den unausbleib- lichen Einfluss unserer verschiedenen modernen Sprachen auf die Philosophie, die in ihnen Ausdruck findet. Die englische Sprache z. B., so reich wie keine zweite an poetischer Suggestionskraft, entbehrt der Fähigkeit, einem subtilen Gedanken bis in seine innersten, geheimsten Windungen zu folgen; an einem bestimmten Punkt versagt sie und es zeigt sich, dass sie nur für das nüchtern Praktisch-Empirische, oder aber für das Schwärmerisch-Poetische ausreicht; sie bleibt gleichsam auf beiden Seiten der scheidenden Grenzlinie zwischen den zwei Reichen zu fern von dieser Linie selbst, als dass ein Übergang, ein Hinüber- und Herüberschweben möglich wäre. Die deutsche Sprache, zugleich weniger poetisch und weniger kom- pakt, ist ein unvergleichlich besseres Werkzeug für die Philosophie: in ihrem Auf- bau wiegt das logische Prinzip mehr vor, ausserdem erlaubt ihre reiche Skala von Ausdrucksnüancen die feinsten Unterschiede aufzustellen, und dadurch ist sie zu- gleich für die genaueste Analyse geeignet und auch für die Andeutung nicht analysier- barer Erkenntnisse. Die schottischen Denker, so ausserordentlich begabt, haben es nie über die verneinende Kritik des Hume hinausbringen können; Immanuel Kant, dem selben schottischen Stamme entsprossen, erhielt von dem Schicksal die deutsche Sprache geschenkt und war dadurch in der Lage, ein Gedankenwerk zu vollbringen, welches durch keine Übersetzungskunst ins Englische übertragen werden kann.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 895. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/374>, abgerufen am 22.11.2024.