Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.Die Entstehung einer neuen Welt. dass sie auf allen Seiten und in den verschiedensten Fassungen Ausdruckfand, von Winckelmann's leuchtender Anschauung, die sich an die Werke der sichtbarsten Gestaltung hielt, bis zu Hamann's Versuchen, in die innerste Seele der schöpferischen Geister auf dunklen Pfaden hinab- zusteigen. Das Allertrefflichste schrieb Diderot in jenem Monument des Humanismus, der grossen französischen Encyklopädie: l'activite de l'ame -- d. h. die höhere Wirkungskraft der Seele -- ist es, welche das Genie ausmacht. Was bei Anderen Erinnerung ist, ist beim Genie thatsächliche Anschauung; alles belebt sich in ihm und alles bleibt lebendig; "ist das Genie vorbeigeschritten, so ist es, als habe sich das Wesen der Dinge umgewandelt, denn sein Charakter ergiesst sich über alles, was es berührt".1) Ähnlich Herder: "Die Genien des Menschen- geschlechts sind des Menschengeschlechts Freunde und Retter, seine Bewahrer und Helfer. Eine schöne That, zu der sie begeistern, wirkt unauslöschlich in die tiefste Ferne".2) Mit Recht unterscheiden Diderot und Herder scharf zwischen Genie und dem bedeutendsten Talent. Ähnlich trennt auch Rousseau das Genie von Talent und Geist, doch, seiner Art gemäss, mehr subjektiv, indem er meint: wer nicht selber Genie besitze, werde nie begreifen, worin Genie bestehe. Ein sehr tiefes Wort enthält einer seiner Briefe: "C'est le genie qui rend le savoir utile".3) Ausserdem hat Rousseau eine ganze Schrift dem Helden gewidmet, und dieser ist der Bruder des Genies, gleich ihm ein Triumph der Persönlichkeit; die Verwandtschaft zwischen beiden deutet Schiller an, indem er die Ideen des Genies als "heldenmässige" be- zeichnet. "Ohne Helden kein Volk!" ruft Rousseau aus, und verleiht dadurch germanischer Weltauffassung kräftigen Ausdruck. Und was stempelt den Mann zu einem Helden? Hervorragende Seelenkraft; nicht der tierische Mut -- darauf legt er grossen Nachdruck -- sondern die Gewalt der Persönlichkeit.4) Kant definiert Genie als "das Talent der Erfindung dessen, was nicht gelehrt oder gelernt werden kann".5) Leicht wäre es, diese wenigen Anführungen auf hunderte zu vermehren, so sehr hatte die humanistische Bildung nach und nach die Frage nach 1) Siehe den Artikel "Genie" in der Encyclopedie; man muss den sechs Seiten langen Aufsatz ganz lesen. Sehr Interessantes über dasselbe Thema in Diderot's Aufsatz De la poesie dramatique. 2) Kalligone, 2. Teil, V, I. 3) Lettre a M. de Scheyb, 15. Juillet 1756. 4) Dictionnaire de musique und Discours sur la vertu la plus necessaire aux heros. 5) Anthropologie § 87 c.
Die Entstehung einer neuen Welt. dass sie auf allen Seiten und in den verschiedensten Fassungen Ausdruckfand, von Winckelmann’s leuchtender Anschauung, die sich an die Werke der sichtbarsten Gestaltung hielt, bis zu Hamann’s Versuchen, in die innerste Seele der schöpferischen Geister auf dunklen Pfaden hinab- zusteigen. Das Allertrefflichste schrieb Diderot in jenem Monument des Humanismus, der grossen französischen Encyklopädie: l’activité de l’âme — d. h. die höhere Wirkungskraft der Seele — ist es, welche das Genie ausmacht. Was bei Anderen Erinnerung ist, ist beim Genie thatsächliche Anschauung; alles belebt sich in ihm und alles bleibt lebendig; »ist das Genie vorbeigeschritten, so ist es, als habe sich das Wesen der Dinge umgewandelt, denn sein Charakter ergiesst sich über alles, was es berührt«.1) Ähnlich Herder: »Die Genien des Menschen- geschlechts sind des Menschengeschlechts Freunde und Retter, seine Bewahrer und Helfer. Eine schöne That, zu der sie begeistern, wirkt unauslöschlich in die tiefste Ferne«.2) Mit Recht unterscheiden Diderot und Herder scharf zwischen Genie und dem bedeutendsten Talent. Ähnlich trennt auch Rousseau das Genie von Talent und Geist, doch, seiner Art gemäss, mehr subjektiv, indem er meint: wer nicht selber Genie besitze, werde nie begreifen, worin Genie bestehe. Ein sehr tiefes Wort enthält einer seiner Briefe: «C’est le génie qui rend le savoir utile».3) Ausserdem hat Rousseau eine ganze Schrift dem Helden gewidmet, und dieser ist der Bruder des Genies, gleich ihm ein Triumph der Persönlichkeit; die Verwandtschaft zwischen beiden deutet Schiller an, indem er die Ideen des Genies als »heldenmässige« be- zeichnet. »Ohne Helden kein Volk!« ruft Rousseau aus, und verleiht dadurch germanischer Weltauffassung kräftigen Ausdruck. Und was stempelt den Mann zu einem Helden? Hervorragende Seelenkraft; nicht der tierische Mut — darauf legt er grossen Nachdruck — sondern die Gewalt der Persönlichkeit.4) Kant definiert Genie als »das Talent der Erfindung dessen, was nicht gelehrt oder gelernt werden kann«.5) Leicht wäre es, diese wenigen Anführungen auf hunderte zu vermehren, so sehr hatte die humanistische Bildung nach und nach die Frage nach 1) Siehe den Artikel »Génie« in der Encyclopédie; man muss den sechs Seiten langen Aufsatz ganz lesen. Sehr Interessantes über dasselbe Thema in Diderot’s Aufsatz De la poésie dramatique. 2) Kalligone, 2. Teil, V, I. 3) Lettre à M. de Scheyb, 15. Juillet 1756. 4) Dictionnaire de musique und Discours sur la vertu la plus nécessaire aux héros. 5) Anthropologie § 87 c.
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Die Entstehung einer neuen Welt.
dass sie auf allen Seiten und in den verschiedensten Fassungen Ausdruck
fand, von Winckelmann’s leuchtender Anschauung, die sich an die Werke
der sichtbarsten Gestaltung hielt, bis zu Hamann’s Versuchen, in die
innerste Seele der schöpferischen Geister auf dunklen Pfaden hinab-
zusteigen. Das Allertrefflichste schrieb Diderot in jenem Monument
des Humanismus, der grossen französischen Encyklopädie: l’activité de
l’âme — d. h. die höhere Wirkungskraft der Seele — ist es, welche
das Genie ausmacht. Was bei Anderen Erinnerung ist, ist beim Genie
thatsächliche Anschauung; alles belebt sich in ihm und alles bleibt
lebendig; »ist das Genie vorbeigeschritten, so ist es, als habe sich das
Wesen der Dinge umgewandelt, denn sein Charakter ergiesst sich über
alles, was es berührt«. 1) Ähnlich Herder: »Die Genien des Menschen-
geschlechts sind des Menschengeschlechts Freunde und Retter, seine
Bewahrer und Helfer. Eine schöne That, zu der sie begeistern, wirkt
unauslöschlich in die tiefste Ferne«. 2) Mit Recht unterscheiden Diderot
und Herder scharf zwischen Genie und dem bedeutendsten Talent.
Ähnlich trennt auch Rousseau das Genie von Talent und Geist, doch,
seiner Art gemäss, mehr subjektiv, indem er meint: wer nicht selber
Genie besitze, werde nie begreifen, worin Genie bestehe. Ein sehr
tiefes Wort enthält einer seiner Briefe: «C’est le génie qui rend le savoir
utile». 3) Ausserdem hat Rousseau eine ganze Schrift dem Helden
gewidmet, und dieser ist der Bruder des Genies, gleich ihm ein
Triumph der Persönlichkeit; die Verwandtschaft zwischen beiden deutet
Schiller an, indem er die Ideen des Genies als »heldenmässige« be-
zeichnet. »Ohne Helden kein Volk!« ruft Rousseau aus, und verleiht
dadurch germanischer Weltauffassung kräftigen Ausdruck. Und was
stempelt den Mann zu einem Helden? Hervorragende Seelenkraft; nicht
der tierische Mut — darauf legt er grossen Nachdruck — sondern die
Gewalt der Persönlichkeit. 4) Kant definiert Genie als »das Talent der
Erfindung dessen, was nicht gelehrt oder gelernt werden kann«. 5) Leicht
wäre es, diese wenigen Anführungen auf hunderte zu vermehren, so
sehr hatte die humanistische Bildung nach und nach die Frage nach
1) Siehe den Artikel »Génie« in der Encyclopédie; man muss den sechs Seiten
langen Aufsatz ganz lesen. Sehr Interessantes über dasselbe Thema in Diderot’s
Aufsatz De la poésie dramatique.
2) Kalligone, 2. Teil, V, I.
3) Lettre à M. de Scheyb, 15. Juillet 1756.
4) Dictionnaire de musique und Discours sur la vertu la plus nécessaire aux héros.
5) Anthropologie § 87 c.
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