Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.Die Entstehung einer neuen Welt. der Naturwissenschaft (1786). Die der erfolgreichen Naturbeobachtungabgelauschte und durch Naturbeobachtung geübte Methode durchdringt denn auch Kant's ganzes Leben und Denken, so dass man ihn als Ent- decker dem Kopernikus und dem Galilei hat vergleichen können (S. 778). In seiner Kritik der reinen Vernunft sagt er, seine Methode, die mensch- liche Vernunft zu analysieren, sei "eine dem Naturforscher nachgeahmte Methode",1) und an anderem Orte führt er aus: "Die echte Methode der Metaphysik ist mit derjenigen im Grunde einerlei, die Newton in die Naturwissenschaft einführte und die daselbst von so nutzbaren Folgen war." Und worin besteht diese Methode? Durch sichere Erfahrung die Regeln aufsuchen, nach welchen gewisse Erscheinungen der Natur vorgehen; auf dem Gebiete der Metaphysik also, durch sichere innere Erfahrung.2) -- Was ich hier nur in den allgemeinsten, gröbsten Zügen zu zeichnen bestrebt bin, wird jeder denkende Mensch durch nähere Be- trachtung bis ins Einzelne und Zarteste hinein verfolgen können. So z. B. ist der Mittelpunkt von Kant's gesamtem Wirken die Frage nach dem sittlichen Kern der Individualität: um bis zu ihm zu gelangen, zerlegt er zuerst den Mechanismus des umgebenden Kosmos; nachher, durch weitere 25 Jahre ununterbrochener Arbeit, zergliedert er den inneren Organismus des Denkens; dann widmet er noch 20 Jahre der Er- forschung der also blossgelegten menschlichen Persönlichkeit. Nichts zeigt nun deutlicher, wie sehr hier Beobachtung das gestaltende Prinzip ist, als Kant's Hochschätzung der menschlichen Individualität. Die Kirchenväter und Doktoren hatten nie Worte genug finden können für ihre Verachtung ihrer selbst und aller Menschen; es war schon ein bedeutendes Symptom gewesen, als jener Stern am Morgen des neuen Tages, Mirandola, 300 Jahre vor Kant ein Buch Über die Würde des Menschen schrieb; dass er eine solche besässe, hatte der arme Mensch unter der langen Herrschaft des Imperiums und des Pontifikats ganz vergessen; inzwischen war er nun mit seinen Leistungen, mit seiner zunehmenden Unabhängigkeit gewachsen, und ein Kant, der zwar im fernabgelegenen Königsberg mit nur einigen wenigen nicht sehr bedeutenden Leuten verkehrte, sonst aber in der alleinigen Gesell- schaft der erhabensten Geister der Menschheit und vor allem seiner selbst lebte, Kant bildete sich aus den unmittelbaren Wahrnehmungen an seiner eigenen Seele eine hohe Vorstellung von der Bedeutung der 1) Anmerkung in der Vorrede zur zweiten Ausgabe. 2) Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie
und der Moral, 2. Betrachtung. Die Entstehung einer neuen Welt. der Naturwissenschaft (1786). Die der erfolgreichen Naturbeobachtungabgelauschte und durch Naturbeobachtung geübte Methode durchdringt denn auch Kant’s ganzes Leben und Denken, so dass man ihn als Ent- decker dem Kopernikus und dem Galilei hat vergleichen können (S. 778). In seiner Kritik der reinen Vernunft sagt er, seine Methode, die mensch- liche Vernunft zu analysieren, sei »eine dem Naturforscher nachgeahmte Methode«,1) und an anderem Orte führt er aus: »Die echte Methode der Metaphysik ist mit derjenigen im Grunde einerlei, die Newton in die Naturwissenschaft einführte und die daselbst von so nutzbaren Folgen war.« Und worin besteht diese Methode? Durch sichere Erfahrung die Regeln aufsuchen, nach welchen gewisse Erscheinungen der Natur vorgehen; auf dem Gebiete der Metaphysik also, durch sichere innere Erfahrung.2) — Was ich hier nur in den allgemeinsten, gröbsten Zügen zu zeichnen bestrebt bin, wird jeder denkende Mensch durch nähere Be- trachtung bis ins Einzelne und Zarteste hinein verfolgen können. So z. B. ist der Mittelpunkt von Kant’s gesamtem Wirken die Frage nach dem sittlichen Kern der Individualität: um bis zu ihm zu gelangen, zerlegt er zuerst den Mechanismus des umgebenden Kosmos; nachher, durch weitere 25 Jahre ununterbrochener Arbeit, zergliedert er den inneren Organismus des Denkens; dann widmet er noch 20 Jahre der Er- forschung der also blossgelegten menschlichen Persönlichkeit. Nichts zeigt nun deutlicher, wie sehr hier Beobachtung das gestaltende Prinzip ist, als Kant’s Hochschätzung der menschlichen Individualität. Die Kirchenväter und Doktoren hatten nie Worte genug finden können für ihre Verachtung ihrer selbst und aller Menschen; es war schon ein bedeutendes Symptom gewesen, als jener Stern am Morgen des neuen Tages, Mirandola, 300 Jahre vor Kant ein Buch Über die Würde des Menschen schrieb; dass er eine solche besässe, hatte der arme Mensch unter der langen Herrschaft des Imperiums und des Pontifikats ganz vergessen; inzwischen war er nun mit seinen Leistungen, mit seiner zunehmenden Unabhängigkeit gewachsen, und ein Kant, der zwar im fernabgelegenen Königsberg mit nur einigen wenigen nicht sehr bedeutenden Leuten verkehrte, sonst aber in der alleinigen Gesell- schaft der erhabensten Geister der Menschheit und vor allem seiner selbst lebte, Kant bildete sich aus den unmittelbaren Wahrnehmungen an seiner eigenen Seele eine hohe Vorstellung von der Bedeutung der 1) Anmerkung in der Vorrede zur zweiten Ausgabe. 2) Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie
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denn auch Kant’s ganzes Leben und Denken, so dass man ihn als Ent-
decker dem Kopernikus und dem Galilei hat vergleichen können (S. 778).
In seiner Kritik der reinen Vernunft sagt er, seine Methode, die mensch-
liche Vernunft zu analysieren, sei »eine dem Naturforscher nachgeahmte
Methode«, 1) und an anderem Orte führt er aus: »Die echte Methode der
Metaphysik ist mit derjenigen im Grunde einerlei, die Newton in die
Naturwissenschaft einführte und die daselbst von so nutzbaren Folgen
war.« Und worin besteht diese Methode? Durch sichere Erfahrung
die Regeln aufsuchen, nach welchen gewisse Erscheinungen der Natur
vorgehen; auf dem Gebiete der Metaphysik also, durch sichere innere
Erfahrung. 2) — Was ich hier nur in den allgemeinsten, gröbsten Zügen
zu zeichnen bestrebt bin, wird jeder denkende Mensch durch nähere Be-
trachtung bis ins Einzelne und Zarteste hinein verfolgen können. So z. B.
ist der Mittelpunkt von Kant’s gesamtem Wirken die Frage nach dem
sittlichen Kern der Individualität: um bis zu ihm zu gelangen, zerlegt
er zuerst den Mechanismus des umgebenden Kosmos; nachher, durch
weitere 25 Jahre ununterbrochener Arbeit, zergliedert er den inneren
Organismus des Denkens; dann widmet er noch 20 Jahre der Er-
forschung der also blossgelegten menschlichen Persönlichkeit. Nichts
zeigt nun deutlicher, wie sehr hier Beobachtung das gestaltende Prinzip
ist, als Kant’s Hochschätzung der menschlichen Individualität. Die
Kirchenväter und Doktoren hatten nie Worte genug finden können
für ihre Verachtung ihrer selbst und aller Menschen; es war schon
ein bedeutendes Symptom gewesen, als jener Stern am Morgen des
neuen Tages, Mirandola, 300 Jahre vor Kant ein Buch Über die
Würde des Menschen schrieb; dass er eine solche besässe, hatte der
arme Mensch unter der langen Herrschaft des Imperiums und des
Pontifikats ganz vergessen; inzwischen war er nun mit seinen Leistungen,
mit seiner zunehmenden Unabhängigkeit gewachsen, und ein Kant, der
zwar im fernabgelegenen Königsberg mit nur einigen wenigen nicht
sehr bedeutenden Leuten verkehrte, sonst aber in der alleinigen Gesell-
schaft der erhabensten Geister der Menschheit und vor allem seiner
selbst lebte, Kant bildete sich aus den unmittelbaren Wahrnehmungen
an seiner eigenen Seele eine hohe Vorstellung von der Bedeutung der
1) Anmerkung in der Vorrede zur zweiten Ausgabe.
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