Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.Weltanschauung und Religion. unerforschlichen menschlichen Persönlichkeit. Dieser Überzeugung be-gegnen wir überall bei ihm und schauen damit in das tiefste Herz des wunderbaren Mannes. Schon in jener Theorie des Himmels, welche einzig die Mechanik des Weltgebäudes darthun soll, ruft er aus: "Mit welcher Art der Ehrfurcht muss nicht die Seele sogar ihr eigen Wesen ansehen!"1) Später spricht er von der "Erhabenheit und Würde, welche wir uns an derjenigen Person vorstellen, die alle ihre Pflichten erfüllt".2) Doch immer tiefer versenkt sich der Denker in diese Betrachtung: "im Menschen eröffnet sich eine Tiefe göttlicher Anlagen, die ihn gleichsam einen heiligen Schauer über die Grösse und Erhabenheit seiner wahren Bestimmung fühlen lässt";3) und in seinem 70. Jahre schreibt der Greis: "das Gefühl des Erhabenen unserer eigenen Bestimmung reisst uns mehr hin, als alles Schöne".4) Dies nur als Andeutung, bis wohin die Methode der Naturforschung führt. Sobald sie mit Kant der Ver- nunft eine neue, der Naturforschung entwachsene und ihr darum an- gemessene Weltanschauung eröffnet hatte, erschloss sie zugleich dem Herzen eine neue Religion -- die Religion Christi und der Mystiker, die Religion der Erfahrung. Doch jetzt müssen wir dieses Charakteristikum unserer neuen Ein besonders tüchtiger und durchaus nüchterner NaturforscherDas exakte 1) Teil 2., Hauptstück 7. 2) Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Abschn. 2., T. 1. 3) Über den Gemeinspruch: das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, I. 4) Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft, St. 1 (Anm. zur Einl.). 5) Alphonse De Candolle: Histoire des sciences et des savants depuis deux siecles, 1885, p. 10. Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 58
Weltanschauung und Religion. unerforschlichen menschlichen Persönlichkeit. Dieser Überzeugung be-gegnen wir überall bei ihm und schauen damit in das tiefste Herz des wunderbaren Mannes. Schon in jener Theorie des Himmels, welche einzig die Mechanik des Weltgebäudes darthun soll, ruft er aus: »Mit welcher Art der Ehrfurcht muss nicht die Seele sogar ihr eigen Wesen ansehen!«1) Später spricht er von der »Erhabenheit und Würde, welche wir uns an derjenigen Person vorstellen, die alle ihre Pflichten erfüllt«.2) Doch immer tiefer versenkt sich der Denker in diese Betrachtung: »im Menschen eröffnet sich eine Tiefe göttlicher Anlagen, die ihn gleichsam einen heiligen Schauer über die Grösse und Erhabenheit seiner wahren Bestimmung fühlen lässt«;3) und in seinem 70. Jahre schreibt der Greis: »das Gefühl des Erhabenen unserer eigenen Bestimmung reisst uns mehr hin, als alles Schöne«.4) Dies nur als Andeutung, bis wohin die Methode der Naturforschung führt. Sobald sie mit Kant der Ver- nunft eine neue, der Naturforschung entwachsene und ihr darum an- gemessene Weltanschauung eröffnet hatte, erschloss sie zugleich dem Herzen eine neue Religion — die Religion Christi und der Mystiker, die Religion der Erfahrung. Doch jetzt müssen wir dieses Charakteristikum unserer neuen Ein besonders tüchtiger und durchaus nüchterner NaturforscherDas exakte 1) Teil 2., Hauptstück 7. 2) Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Abschn. 2., T. 1. 3) Über den Gemeinspruch: das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, I. 4) Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft, St. 1 (Anm. zur Einl.). 5) Alphonse De Candolle: Histoire des sciences et des savants depuis deux siècles, 1885, p. 10. Chamberlain, Grundlagen des XIX. Jahrhunderts. 58
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Weltanschauung und Religion.
unerforschlichen menschlichen Persönlichkeit. Dieser Überzeugung be-
gegnen wir überall bei ihm und schauen damit in das tiefste Herz des
wunderbaren Mannes. Schon in jener Theorie des Himmels, welche
einzig die Mechanik des Weltgebäudes darthun soll, ruft er aus: »Mit
welcher Art der Ehrfurcht muss nicht die Seele sogar ihr eigen Wesen
ansehen!« 1) Später spricht er von der »Erhabenheit und Würde, welche
wir uns an derjenigen Person vorstellen, die alle ihre Pflichten erfüllt«. 2)
Doch immer tiefer versenkt sich der Denker in diese Betrachtung: »im
Menschen eröffnet sich eine Tiefe göttlicher Anlagen, die ihn gleichsam
einen heiligen Schauer über die Grösse und Erhabenheit seiner wahren
Bestimmung fühlen lässt«; 3) und in seinem 70. Jahre schreibt der Greis:
»das Gefühl des Erhabenen unserer eigenen Bestimmung reisst uns
mehr hin, als alles Schöne«. 4) Dies nur als Andeutung, bis wohin
die Methode der Naturforschung führt. Sobald sie mit Kant der Ver-
nunft eine neue, der Naturforschung entwachsene und ihr darum an-
gemessene Weltanschauung eröffnet hatte, erschloss sie zugleich dem
Herzen eine neue Religion — die Religion Christi und der Mystiker,
die Religion der Erfahrung.
Doch jetzt müssen wir dieses Charakteristikum unserer neuen
Weltanschauung, die rückhaltlose Hingabe an die Natur, noch von
einer anderen Seite betrachten, nämlich rein theoretisch, damit wir nicht
allein die Thatsache anerkennen, sondern auch ihre Bedeutung begreifen.
Ein besonders tüchtiger und durchaus nüchterner Naturforscher
unserer Tage schreibt: »Die Grenze zwischen dem Bekannten und
dem Unbekannten wird niemals so deutlich wahrgenommen, wie durch
eine exakte Beobachtung von Thatsachen, sei es wie sie die Natur
unmittelbar darbietet, sei es im künstlich angestellten Experiment.« 5)
Diese Worte sind ohne jeden philosophischen Hintergedanken gesprochen,
sie können aber zur ersten Gewinnung einer Einsicht dienen, die dann
nach und nach vertieft werden mag. Ein fleissiger Mann der wissen-
schaftlichen Praxis hat im Laufe eines langen Lebens bemerkt, dass
selbst die Naturforscher keine deutliche Vorstellung davon haben,
Das exakte
Nichtwissen.
1) Teil 2., Hauptstück 7.
2) Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Abschn. 2., T. 1.
3) Über den Gemeinspruch: das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht
für die Praxis, I.
4) Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft, St. 1 (Anm. zur Einl.).
5) Alphonse De Candolle: Histoire des sciences et des savants depuis deux
siècles, 1885, p. 10.
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